buechernachlese.de
|
Renie Sulawayo ist Dozentin an der Technischen Hochschule in Durban.
Sie bringt ihren Studenten den kreativen Umgang mit der Virtuellen Realität
näher. Die längst üblichen Neuronalverbindungen mit dem
'Netz' vermitteln Sinneseindrücke wie im wirklichen Leben. Sogar virtuelles
Essen und Trinken ist möglich. Da man sich autodidaktisch sehr viel
Wissen über das Netz aneignen kann, gibt es keine überfüllten
Hörsäle mehr, und Renie unterrichtet nur einen einzigen, äußerst
talentierten Studenten. !Xabbu ist von seiner Abstammung her ein Buschmann.
Diese kleinwüchsigen Ureinwohner Afrikas sind im Aussterben begriffen,
und !Xabbu will für die Nachwelt eine Computersimulation entwickeln,
die sein Volk wenigstens virtuell am Leben erhält.
Renies dreizehnjähriger Bruder Stephen ist wie alle Kinder seines
Alters besonders von den Abenteuerspielen im Netz angetan. Übertroffen
wird diese Lust am Spiel höchstens noch von der Möglichkeit,
sich in fremde Systeme hinein zu 'hacken'. Von einem dieser Ausflüge
kommt Stephen allerdings nicht mehr zurück. Er liegt seitdem im Koma.
Renie stellt zusammen mit dem schamanisch begabten !Xabbu Nachforschungen
an. Dabei findet sie heraus, daß Stephen nicht das einzige Opfer
dieser "Krankheit" ist. Kurz darauf werden sie und ihr Vater beinah
Opfer eines Bombenanschlags ...
Mit "Otherland - Stadt der goldenen Schatten" wird der erste Band einer
vierteiligen Cyberspace-Saga vorgelegt, der äußerst vielversprechend
ist. Tad Williams hat, so paradox das für die Science-Fiction klingen
mag, mit diesem Werk Neuland betreten und womöglich sogar eine eigene
Subgattung begründet. Dazu bediente er sich wie in der postmodernen
Architektur gleich mehrerer Stilmittel und Vorbilder. Was die Grundlage
seiner Welt angeht, das 'Netz' bishin zum Begriff 'Cyberspace',
stand wohl eindeutig William Gibson Pate, für den soliden Aufbau der
Geschichte aber liegen die Wurzeln am entgegengesetzten Ende des Science-Fiction-Spektrums
bei J.R.R. Tolkien.
Der geniale, weil eigentlich naheliegende Kunstgriff:
Williams nutzt die von Drehbüchern entlehnte Schnitt-Technik, um in
fesselnder Manier scheinbar völlig unabhängig voneinander existierende
Erzählfäden aufzurollen und deren Protagonisten zuletzt doch
noch auf eine Ebene, nämlich die Netzebene zu bringen. Dabei gelingt
es ihm derart überzeugend, die "Wirklichkeiten" zu verwischen
und für überraschende Wendungen zu sorgen, daß man auch
als Leser die "Verrückbarkeit" virtueller Dimensionen nachvollzieht.
In bester traditioneller Erzählweise werden die Helden der Geschichte
komplett, also auch in ihren Brüchen vorgestellt und laden so zur
Identifikation ein. Ein horizonterweiternder Vorzug der weltumspannenden
Netzebene ist zudem, daß die Haupthandlungsträger aus Südafrika
stammen.
Am Ende bleiben zwei Fragen offen: Wie ist Paul Jonas aus den
"wirklichen" Schützengräben im Jahre 1918 in die virtuelle
Realität gelangt? Und wie werden neun Individualisten mit den übermächtigen
Hütern des "Grals" fertig, obwohl sie mit dem Rücken an
der virtuellen Wand stehen und einen Verräter unter sich haben?
Weitere Besprechungen zu Werken von Tad Williams siehe:
Bobby Dollar:
Tad Williams: Die dunklen Gassen des Himmels Bd.1 (2013)
Kurzhinweis: Tad Williams: Happy Hour in der Hölle Bd.2 (2014)
Kurzhinweis: Tad Williams: Spät dran am Jüngsten Tag Bd.3 (2015)
Osten Ard (Prequel):
Tad Williams: Brüder des Windes (2022)
Osten Ard:
Tad Williams: Das Geheimnis der großen Schwerter Bd.1-4 (2010-2011)
Tad Williams: Das Herz der verlorenen Dinge (2017)
Osten Ard 1:
Tad Williams: Die Hexenholzkrone 1+2 (2017)
Osten Ard 2:
Tad Williams: Das Reich der Grasländer 1+2 (2020)
Osten Ard 3:
Tad Williams: Im dunklen Tal 1+2 (2023)
Otherland:
Tad Williams: Stadt der goldenen Schatten Bd.1 (1998)
Tad Williams: Otherland Bd.1-4 (1998-2002)
Shadow March:
Tad Williams: Die Grenze Bd.1 (2005)
Tad Williams: Das Spiel Bd.2 (2007)
Tad Williams: Das Dämmerung Bd.3 (2010)
Tad Williams: Das Herz Bd.4 (2011)
Tinkerfarm:
Tad Williams & Deborah Beal: Die Drachen der Tinkerfarm Bd.1 (2009)