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Howard Gardner

Der ungeschulte Kopf

Wie Kinder denken. Klett-Cotta, Stuttgart 1993, 355 S., ISBN: 3-608-95889-4, >>> Amazon
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Was ist mehr: 0,6 oder 0,5999? Und wenn ich eine Münze in die Luft werfe, wirken dann am Ende des Höhenfluges, also am Scheitelpunkt, ein oder zwei physikalische Kräfte?
Solche und ähnliche Fragen wurden Erst-Semestern gestellt, die trotz ihrer langjährigen Schulausbildung meist nicht auf Anhieb die angemessene Lösung fanden - es waren im übrigen u.a. Studenten der Mathematik und der Physik, denen diese Fragen vorgelegt worden sind.
Howard Gardner weist in seinem Buch DER UNGESCHULTE KOPF nach, daß diese Resultate nicht den "geistigen Verfall" heutiger Studenten belegen, sondern vielmehr einen Hinweis auf überholte Schul-bzw.Lernstrukturen geben. Diese Strukturen lassen nämlich außer acht, daß wir Menschen bereits als (Vorschul-)Kinder Theorien über die Verfassung der uns umgebenden Welt entwickeln. Z.B. wissen alle Kinder schon sehr bald, daß es "aus der Haut blutet", aber wie wir unter der Haut beschaffen sind, wissen sie nicht. Trotzdem liefern Kinder durchaus plausible Beschreibungen und Erklärungen für das Phänomen des "aus der Haut blutens", ohne daß sie allerdings wissenschaftlich haltbar sind. In der Schule nun sollen Schüler zwar für das Leben lernen, in Wirklichkeit aber lernen sie auf vorformulierte Fragen vorgeschriebene Antworten zu geben. Die Schüler befriedigen dann so gut es geht, nötigenfalls durch "Abschreiben", das Bedürfnis der Lehrer nach ihren Antworten, aber "privat" hält man sich an seine von Kindheit an erprobten "Theorien".
Das über lange Jahre hin erworbene Schulwissen führte also bei vielen von uns eine Art Eigenleben, das scheinbar nicht auf die Realität zu übertragen war. So erklärt es sich, daß z.B. Mathematik-Studenten bei Fragestellungen, die nur ein wenig von den erlernten "Schulformeln" abweichen, ins Schleudern geraten. Obwohl sie das Mathematik-Abitur vielleicht sogar mit "sehr gut" bestanden hatten, haben sie die Mathematik an sich nicht wirklich verstanden.
Nach einer Beschreibung der offenkundig weltweit gültigen Entwicklungsverläufe von Kindern und den Darstellungen der einst und heute üblichen Lehr-und Lernmethoden befaßte sich Howard Gardner im dritten Teil seines Buches mit schulpädagogischen Ansätzen, die auf das wirkliche Verständnis bei Schülern abzielen. Unter anderem leitet er aus den Thesen seines letzten Buches, wonach wir Menschen mindestens über sieben verschiedenartige Intelligenzen verfügen, z.B. fünf Zugänge zur Vermittlung von (Fach-)Wissen ab. Demnach sollten Lehrer den Schülern ihren "Stoff" möglichst erzählerisch und logisch-quantitativ und grundsätzlich und ästhetisch und experimentell zugänglich machen. Es würde sich dabei auch herausstellen, daß viele als schlechte Schüler gebrandmarkte Kinder in Wirklichkeit gar nicht "dumm" oder "verhaltensgestört" sind, sondern in einseitig ausgelegten Schulsystemen ausdauernd lediglich eine ihrer weniger ausgeprägten Intelligenzen geprüft wurde. Gar nicht auszudenken, was das letztlich bedeutet!
"Ob wir uns entschließen, diesen Weg zu verfolgen - zum Verständnis zu erziehen - ist eher eine politische als eine wissenschaftliche oder pädagogische Frage."
Es nützen nämlich die besten Lehr- und Beurteilungsmethoden an den (wenigen) best ausgestatteten Schulen mit sehr guten Lehrern nichts, wenn die Gesellschaft für ihre Kinder nicht  wirklich Verständnis hat und ihnen den Vorrang gibt, der ihnen gebührt. Die darf sich dann auch nicht wundern, wenn die Kinder immer weniger wirkliches Verständnis für die Gesellschaft aufbringen.
Die meisten Erkenntnisse Gardners sind gar nicht so sensationell neu, ja einige grundlegende Theorien, auf die er sich stützt sind schon gut hundert Jahre alt, aber seine auch für den Laien eingängige Art zu schreiben, indem er also das umsetzt, wovon er geschrieben hat und das Geschriebene in den Zusammenhang des Alltags stellt, macht seine Arbeit so bemerkenswert. Nach der Lektüre könnte jedenfalls so manche(r) wieder Lust haben, für ein wirkliches Verständnis der Kinder, "unserer Zukunft", einzutreten.
(Für die, die es gleich gewußt haben zur Bestätigung: O,6; eine Kraft, nämlich die Schwerkraft)

Weitere Besprechungen zu Werken von Howard Gardner siehe:
Howard Gardner: Dem Denken auf der Spur (1989)
Howard Gardner: Abschied vom I. Q. (1991)
Howard Gardner: Der ungeschulte Kopf (1993)
Howard Gardner: Intelligenzen (2002)

Buechernachlese © Ulrich Karger


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