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"Das Vorbild für die (Kognitions-)Wissenschaft
geht auf die Griechen zurück - auf die Schriften von Platon
und Aristoteles, die Themen, um die es im MENON
geht. Hier wurden erstmals die Fragen nach Natur,
Status, Ursprung und Anwendung von Wissen formuliert."
Das fachgebietübergreifende (interdisziplinäre) Arbeiten
und Projektieren zu bestimmten Fragen ist ja nun mittlerweile
selbst für den Laien eine einsehbare Herangehensweise. Der
u.a. an der Harvard University lehrende Psychologe
Howard Gardner dokumentierte aber bereits 1985 in THE MIND'S
NEW SCIENCE / A HISTORY OF THE COGNITIVE REVOLUTION als
Erster das Sich-zusammenfügen und Entwickeln einer gänzlich
neuen Wissenschaft, die sich das Interdisziplinäre zum Prinzip
bzw. zum Ausgangspunkt gemacht hat: Die KOGNITIONSWISSENSCHAFT(=Kw).
Nun liegt auch die deutsche Übersetzung (Ebba D. Drolshagen)
dieses Werkes unter dem Titel DEM DENKEN AUF DER SPUR vor.
Im ersten Kapitel dieser dreiteiligen Arbeit
wird DIE KOGNITIVE WENDE erläutert, d. h. ausgehend von
MENON, einem Dialog Platons, werden die ersten Grundfragen nach der
Natur des Wissens ("Woher kommt es, worin besteht es, wie
ist es im menschlichen Geist repräsentiert?") und
die daraus entwickelte, höchst umstrittene Theorie menschlichen
Wissens vorgestellt, die ihren Sitz "par excellence in der Mathematik
sowie den exakten Wissenschaften begründet hatte."
Nach einem ersten historischen Abriß bis in die
Gegenwart, geht es dann um eine erste, längst noch nicht endgültige
Definition von Kw, um die seit Anfang der siebziger
Jahre gerungen wird: "Ich definiere Kw als einen zeitgenössischen
Versuch, sehr alte erkenntnistheoretische Fragen
auf empirischem Wege zu beantworten - vor allem Fragen, welche
sich mit der Natur des Wissens, dessen Komponenten, dessen
Ursprüngen, dessen Entfaltung und dessen Anwendung befassen.
(..) Ich möchte herausfinden, ob Fragen, die unsere philosophischen
Ahnen fesselten, endgültig beantwortet, sinnvoll neu gestellt
oder für immer begraben werden können. Die Kw ist heute
in der Lage, die Lösungen zu finden."
Als ein Fundament für die Kw benennt
Gardner das Hixon-Symposium von 1948, an dem sich bedeutende Wissenschaftler
verschiedener Disziplinen zu einer Konferenz über
"zerebrale Verhaltensmechanismen" beteiligten und dort
gemeinsam dem BEHAVIORISMUS, der Themen wie Geist und Denken,
oder Begriffe wie Plan und Absicht beharrlich gemieden
sehen wollte, eine Kampfansage erteilten.
Nach Gardners Definition sind vorläufig sechs Wissenschaften
an der Kw "beteiligt": Die themenvorgebende PHILOSOPHIE,
die Methodik und Substanz verknüpfende PSYCHOLOGIE,
das Handwerkszeug der Experten mittels der KÜNSTLICHEN
INTELLIGENZ (Computer) sowie die Sprache reflektierende LINGUISTIK
als Kern- und ANTHROPOLOGIE und NEUROWISSENSCHAFT als Grenzbereich
der Kw.
Die Entwicklung dieser genannten Wissenschaften stellt Gardner
im 2. Teil an ihren exemplarischen Vertretern und Kritikern
von den Anfängen bis zur Gegenwart vor und weist auf ihre schon
bestehenden, wenn auch z.T. sehr zarten Verbindungen zu den
anderen Wissenschaften hin.
Teil III subsummiert unter der Überschrift
AUF DEM WEG ZU EINER INTEGRIERTEN WISSENSCHAFT die ersten kognitionswissenschaftlichen
Ergebnisse der unterschiedlichen Bereiche. Stichworte
dazu sind WAHRNEHMUNG, VORSTELLUNGSBILDER (Erfindungen
der Phantasie?) EINE KATEGORISIERTE WELT (und die zumindest teilweise Verabschiedung
des einfachen Kategorisierens und Klassifizierens bzw.
deren Herausstreichen als ein Mittel) sowie der Nachweis, daß Menschen
nicht per se "rationale Wesen" sind. Dem schließt
sich eine Zusammenfassung an, die das Paradox der Computergesellschaft ("Die
Idee der Repräsentation hing bislang eng mit unseren
gegenwärtigen Vorstellungen vom Computer zusammen. (...) aber,
mein zweiter Vorbehalt gegen den Computer als Modell
betrifft den gravierenden Unterschied zwischen biologischen
und mechanischen Systemen.") sowie die künftigen
Aufgaben der Kw erläutert bzw. prognostiziert.
"..., höchstes Ziel der Kw sollte ganz genau
das sein: eine überzeugende wissenschaftliche Erklärung,
wie Menschen zu ihren bemerkenswertesten symbolischen Erzeugnissen
kommen: Wie wir Symphonien komponieren, Gedichte schreiben..."
Zu guter Letzt ein aktualisiertes Nachwort für
diese Ausgabe, in dem Gardner u.a. allerneueste Erkenntnisse
skizziert und auf das erstaunliche Durchsetzungsvermögen
der Kw hinweist: In den USA sind nach 1984 mehr
als 100 Hochschulen dabei, Kw als Studiengang anzubieten.
Nicht von ungefähr wurde der Autor für
seine bis dahin sieben veröffentlichten Sachbücher
1983 mit dem NATIONAL PSYCHOLOGY AWARD FOR EXCELLENCE IN MEDIA ausgezeichnet,
denn trotz akademisch angemessener Sprachregelung gelingt es ihm,
den jeweiligen Reiz eines verfochtenen oder kritisierten
Standpunktes aus den verschiedenen Disziplinen in
geradezu fesselnder Manier zu vermitteln. Mit dieser synoptischen
Zusammenschau der unterschiedlichen Strömungen und
seinen sensiblen Kommentierungen leistete Gardner die schwierige Arbeit
eines Vermittlers, dessen ganze Bandbreite seiner Anstrengung
vermutlich erst sehr viel später die entsprechende Würdigung
erfahren wird.
Die Kw kann (noch) nicht wirklich als etabliert
gelten, auch wenn sie zumindest in den USA schon
institutionalisierte Konturen angenommen hat. Von daher ist es wohl auch
noch erlaubt, eine Kritik anzuregen, die weniger dem
Autoren als der wissenschaftliche Haltung an sich gilt. Gardner hat
im Kapitel zur WAHRNEHMUNG u.a. die ökologische Schule Gibsons
angeführt, die ihre Kriterien zur Überprüfung eines
Standpunktes nicht von außen anlegt, sondern
innerhalb eines Systems z.B. eines primitiven Stammes Beobachtungen
anstellt und von da aus Konzepte und Theorien entwickelt.
"Die Denkrichtung die Gibson begründet hat,
ist eine große Herausforderung für den generellen
kognitionswissenschaftlichen Erklärungsanstz von
Wahrnehmung - und auch für andere Fragen der menschlichen Kognition."
Wenn diese Schule immerhin als eine konzeptbildende anerkannt
wird, wie kann dann die Frage nach dem Wozu des Wissenwollens
derart stringent außer acht gelassen werden? Daß
das Wissen untersucht wird und diese Untersuchungen Ergebnisse "abwerfen"
können ist banale Wirklichkeit, aber bedarf es nicht
endlich -gerade wenn es um das Denken der Menschen
geht- auch einer moralisch ethischen Komponente innerhalb solcher
Wissenschaft, die den Wissenschaftler zwingt, Verantwortung
für die Folgen seiner Ergebnisse tragen zu können und zu wollen?
Eine neue Wissenschaft, welche die Vorteile der
Vernetzung und des Austauschs von Gedanken zum
methodischen Prinzip erheben will, sollte sich nicht die Chance
entgehen lassen, auch einem WISSEN IST MACHT konstruktiv zu
begegnen. Wer Substanz und Essenz sechs gänzlich verschiedener
Fakultäten in eins denken kann, wird auch die "Absichten
und Pläne", und den "Geist und das Denken" wahrhaft
wissenschaftsfeindlicher Systeme wahrnehmen und mitbedenken müssen.
Kein Messer im Kopf, sondern lediglich ein hin und wieder Anheben des Kopfes aus der Hörsaal-und Laborperspektive scheint heutzutage mehr
als angebracht.
Dem Denken auf der Spur - nichts wie hinterher!
Weitere Besprechungen zu Werken von Howard Gardner siehe:
Howard Gardner: Dem Denken auf der Spur (1989)
Howard Gardner: Abschied vom I. Q. (1991)
Howard Gardner: Der ungeschulte Kopf (1993)
Howard Gardner: Intelligenzen (2002)