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Die Grenze zwischen Orient und Okzident wird von vielen bereits schon
innerhalb Europas gezogen. Wieviele Gemeinsamkeiten aber in Wahrheit zwischen
muslimisch und christlich geprägten Staaten bestehen, wird einem erst
klar, wenn man sich als Europäer mit dem Staaten- und Religionenkonglomerat
Indiens auseinandersetzt.
Der Kulturwissenschaftler Gerhard Schweizer bereist
diesen Subkontinent mit seinen ca. 950 Millionen Einwohnern bereits seit
1964, und so kann er auch dank eigener Anschauung Entwicklungen und gewisse
Konstanten ausmachen. Von Indien als einem Staatengebilde läßt
sich ja frühestens seit der Kolonialisierung durch die Briten sprechen.
Knapp ein halbes Jahrhundert nach der Entlassung in die Unabhängigkeit
bildet ironischerweise immer noch die Sprache der einstigen Herren den
Kitt, der überhaupt eine Kommunikation untereinander ermöglicht:
15 Hauptsprachen, 720 Dialekte und 11 verschiedene Schriften lassen die
Inder sowenig "indisch" sprechen wie uns Europäer "europäisch".
In vier Abschnitten mit insgesamt 14 Unterkapiteln gibt der Autor zuerst
einen Überblick über aktuell zu machende Beobachtungen wie z.B.
die sich zu hunderten vor Moscheen und Hindu-Tempeln verschanzenden Soldaten,
die mehr als fragwürdige Interpretation der "Reinheit" des
Ganges oder auch die nach wie vor gültige englische Wortwahl für
bestimmte Begriffe trotz jahrzehntelanger Unabhängigkeit. Danach analysiert
er sehr einfühlsam, was es mit der Toleranz zwischen den Religionsgemeinschaften
in Indien auf sich hat. Hierbei ist vor allem festzuhalten, daß der
Begriff "Toleranz" eine ganz andere Konnotation findet als bei uns.
(Mahatma Ghandi zählte übrigens zu den Neo-Hinduisten.) Der dritte
Abschnitt geht auf das Hauptproblem Indiens ein, und dies stellt demnach
tatsächlich nicht die Anbetung unterschiedlicher Gottesvorstellungen
dar, sondern das Befolgen des "Dharma", also die durch die "Kasten"-Einteilung
geregelte Sozialordnung, der sich z.T. sogar indische Moslems und Christen
unterwerfen. Schweizer belegt sehr eindrücklich, wie sehr dieses Kastensystem
zur Erstarrung und (korruptiver) Aushöhlung des demokratischen Indien
beiträgt. Der vierte Abschnitt reicht denn auch wieder sehr nah an
die Gegenwart, da es hierin um die Radikalisierung der unterschiedlichen
religiösen Gruppierungen geht, die ihre Benachteiligungen nicht mehr
länger hinnehmen wollen.
Ausgestattet mit 15 Farbfotos und einem Anhang mit Quellenangaben und
weiterführenden Literaturhinweisen, besticht dieses Buch vor allem
durch Schweizers Gabe, diesem äußerst komplexen Thema mit klar
verständlicher Sprachregelung zu begegnen. Seine Anfragen aber auch
seine Irritationen machte er stets kenntlich. Seine spürbare Faszination,
sich mit diesem Land im "fernen Osten" auseinanderzusetzen, wird
nachvollziehbar.
Weitere Besprechungen zu Werken von Gerhard Schweizer siehe:
Gerhard Schweizer: Ungläubig sind immer die Anderen (1990)
Gerhard Schweizer: Indien (1995)
Gerhard Schweizer: Syrien (1998)