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Manche, nein, die meisten Buchneuerscheinungen kann ein einzelner Rezensent gar nicht zur Kenntnis nehmen. "Neles Buch der großen Fragen" hat sich mir aber nun doch noch ins Bewusstsein gedrängt. Immerhin liegt es nach seinem Erscheinen im letzten Jahr jetzt bereits in der dritten Auflage vor.
Rainer Oberthür, seines Zeichens Dozent für Religionspädagogik und katholischer Religionslehrer, hat hier ein sehr anspruchsvolles Werk für Kinder vorgelegt, das sich, wenn auch unter anderen Vorzeichen, an "Sophies Welt" von Jostein Gaarder messen lässt. Im Gegensatz zu Gaarder geht es Oberthür nicht um eine didaktisch chronologische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Philosophien, als vielmehr um dezidiert religiös-christliche, keineswegs auf eine Konfession beengte Weltsichten und Fragehaltungen.
Um nicht gleich mit seiner Ich-Erzählerin ins Haus zu fallen, setzt hier ein "Erster Vorhang" den Anfang, der wiederum mit der programmatischen Zeile beginnt: "Am Anfang war der Urknall und heute bist du auf der Welt". Auf ihn folgt das Gedicht "Raumfahrer!" von Reiner Kunze, das die Erde als blauen Ball im Weltall schweben lässt. Schon wird der "zweite Vorhang" aufgezogen und Nele stellt sich als ein Mädchen "in den besten Jahren" vor, das im Fragen den Reiz aufzudeckender Geheimnisse sieht. Das Geschenk eines unbeschriebenen Buches wird zur Herausforderung, und Nele sammelt darin im Wechsel "eigene" Gedanken und mit ihnen korrespondierende Gedichte, Geschichten und auch einige Bilder. Die "eigenen" Gedanken sind nicht kindlich formuliert - das hätte der Autor anmaßend und anbiedernd gefunden - sondern Nele ist hier sehr bewusst als Identifikations- und Projektionsfigur eingesetzt, die den Fragen der anvisierten Leserschaft eine angemessene Sprache geben soll.
Der Erfolg dieses Buches scheint diesem zur üblichen Kinderliteratur gegenläufigen Anspruch Recht zu geben. Bevor ich mich dennoch kritisch zu diesem Ansatz äußere, sei auf die ca. 40 mit den Eintragungen Neles korrespondierenden Beiträge hingewiesen. Neben zahlreichen Kinderbuchautoren, insbesondere der Beltz & Gelberg Riege und hier nicht zuletzt auch aus der Anthologie "Großer Ozean" von Hans-Joachim Gelberg, wurden auch Autoren wie Walt Whitman, Günter Kunert, Ernst Jandl und Erich Fried ausgewählt. Deren Texte treffen unabhängig vom Alter der Leser allesamt den Nagel auf den Kopf, wenn es darum geht, die Fragen nach dem Woher, dem Wohin, dem Anfang und dem Ende irdischen Daseins anzustoßen. Dazwischen immer wieder die "11-jährige" Nele, die z.B. schreibt: "Wieder habe ich etwas von mir selbst gelernt. Papa erzählte mir, vor einigen Jahren habe ich auf seine Frage: Was ist Leben?, geantwortet: DA-Sein. Und auf die Frage: Was ist Tod?, sagte ich WEG-Sein. Das sind einfache Antworten, die es aber in sich haben. Denn sie helfen meinen Gedanken auf die Sprünge."
Obwohl Jostein Gaarder in "Sophies Welt" eine durchaus didaktische Erzählhaltung eingenommen hat, kann ich mir nach wie vor nur eine sehr kleine Anzahl 14-jähriger vorstellen, die so ein Buch alleine zu bewältigen vermag. "Neles Buch der großen Fragen" richtet sich an 10-jährige und ist weit offener, weniger vermittelnd konzipiert. Das hat zwar den Vorteil, dass man es auch einfach in der Mitte aufschlagen und eine gehaltvolle Anregung finden kann, außerdem erhielt Rainer Oberthür auf seinen Lesungen eine Vielzahl von Echos, wonach sogar 8-jährige Neles Fragen goutieren - wie aber lässt sich das mit den berüchtigten PISA-Ergebnissen in Einsbringen?
Gekauft wird so ein Buch in der Hauptsache von Erwachsenen. Mit den besten Absichten. Ein Buch haben und es lesen, ist aber zweierlei! Es einfach ins Kinderzimmer zu legen, reicht hier als Impuls nur in den seltensten Fällen aus. Was ich mir aber sehr gut vorstellen kann, sind dialogische Situationen zwischen Eltern und ihren Kindern, zwischen Lehrern und Schülern usw., in denen erst aus dem Buch vorgelesen und dann darüber gesprochen wird. Zumindest am Anfang. Bleibt das Buch nach solchen Dialogerlebnissen in Griffweite der Kinder, wird das eine oder andere gewiss auch alleine einen Blick hinein riskieren und sich daran "festlesen". Denn hierin gebe ich Oberthür durchaus Recht: Entsprechend geförderte und geforderte Kinder vermögen einer Intuition nachzuspüren, die ihnen schon sehr früh ein Philosophieren und Theologisieren mit für Erwachsene verblüffenden Schlussfolgerungen erlaubt. Zudem haben Kinder generell die Gabe, aus Texten das für sie Relevante herauszuholen und noch nicht Verständliches einfach (für später) stehen zu lassen.
Lassen es also die Erwachsenen nicht allein mit dem Kauf bewenden, ist "Neles Buch der großen Fragen" ein Buch zum Hineinwachsen, das nicht so schnell in den Regalen der Kinderzimmerbibliothek verstauben wird.
Weitere Besprechungen zu Werken von Rainer Oberthür siehe:
Rainer Oberthür: Neles Buch der großen Fragen (2002)
Rainer Oberthür: Neles Tagebuch (2006)
Rainer Oberthür: Die Ostererzählung (2007)
Rainer Oberthür: Die Weihnachtserzählung (2011)
Rainer Oberthür: Die Pfingsterzählung (2014)