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1886, zwei Jahre vor dem Dreikaiserjahr wird Lene Schindacker eingesegnet und soll nun in "Stellung gehen". Dazu muss die 14-jährige ihr vertrautes Dorf verlassen und nach Berlin reisen. Mit der Adresse einer Dienstbotenagentur in der Hand wird sie zuerst von einer Kupplerin angesprochen, dann von einem Polizeihauptmann, der sie vom Fleck weg zur Unterstützung seiner Ehefrau engagiert - sehr zum Leidwesen von Lene, denn die Frau Polizeihauptmann nutzt sie schamlos aus und hält sie auch mit dem Essen knapp. Doch schon mit ihrer nächsten Stelle scheint Lene das große Los gezogen zu haben ...
Das Thema liegt in der Luft - im Fernsehen wurde bereits die x-te Variation einer So-tun-als-ob-Dokumentation ausgestrahlt, in denen sich Laien auf ein Leben wie vor hundert Jahren einlassen. Das ist zuweilen vergnüglich und auch ganz interessant anzusehen, erreicht aber längst nicht den Unterhaltungswert eines Romans, der die eigene Phantasie zur Zeitreise einlädt.
Und Gabriele Beyerlein versteht es, einen von der ersten bis zur letzten Seite einzufangen. "In Berlin vielleicht" erzählt von dem Auf und Ab eines Mädchens, das sich in der Kaiserzeit auf "ehrbare Weise" durchzubringen versucht. Der Vater unbekannt, die Mutter mit dem eigenen Überleben beschäftigt, gibt es zudem weder Arbeitsschutzgesetze noch überhaupt irgendeine wirksame Arbeitnehmervertretung. Und allein die Schwangerschaft einer Frau reichte aus, um ihr augenblicklich zu kündigen und sie so in doppelt und dreifache Not geraten zu lassen.
Dass einem diese Geschichte unter die Haut geht, ist nicht zuletzt Beyerleins Sinn für Sprache zu verdanken. Die Ausdrucksweise jener Zeiten verwebt sie geschickt und ohne Gestelztheiten in eine Melodie und einen Rhythmus, die das Schicksal Lenes nachklingen lassen - keineswegs nur bei der anvisierten jugendlichen Zielgruppe. Dafür, aber natürlich auch für die Realien jener Zeiten in Berlin, hat die Autorin offenbar sehr ausdauernd recherchiert. Aus ihren gewonnenen Erkenntnissen vermochte sie dann leichthändig zu schöpfen und die Handlung ohne aufdringliche Gelehrsamkeit in ein atmosphärisch dichtes Zeitbild einzubetten. Ihr gewähltes Sujet birgt ja nicht wenige Falltüren, nicht zuletzt das Dickens'sche Stereotyp eines "gefallenen Mädchens. Lene Schindacker aber erwehrt sich dieses Stereotyps geschickt und ist immer wieder für Überraschungen gut, die dennoch in sich plausibel sind. So erweist sich hier bereits das Kaiserreich als ein denunziatorisches Überwachungssystem, das nicht nur Dienstmädchen drangsalierte, sondern unter anderem auch Sozialdemokraten und Homosexuelle unnachgiebig verfolgte, selbst wenn sie so genannten "besseren Kreisen" angehörten. Aber unter dem größten Druck standen Mädchen und Frauen - und dieser Druck war damals noch weit größer, als er heute zu beklagen ist.
Als Lene Schindacker knapp 20 Jahre alt ist, findet ihre Geschichte schließlich den Abschluss in einem bitter-süßen, offenen Ende - hoffentlich nur ein vorläufig offenes Ende ...
Weitere Besprechungen zu Werken von Gabriele Beyerlein siehe:
Gabriele Beyerlein: Wie ein Falke im Wind (1993)
Gabriele Beyerlein: In Berlin vielleicht (Berlin-Trilogie 1/3; 2005)
Gabriele Beyerlein: Berlin, Bülowstr. 80a (Berlin-Trilogie 2/3; 2007)
Gabriele Beyerlein: Es war in Berlin (Berlin-Trilogie 3/3; 2009)
Gabriele Beyerlein: In die Steinzeit und zurück (Lektüre + Materialienheft; 2012)
Gabriele Beyerlein: Ins Mittelalter und zurück (Lektüre + Materialienheft; 2014)
Gabriele Beyerlein: Aja oder Alles ganz anders (2020)