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Der Anfang der Geschichte
Mias Stecknadel
von
Ulrich Karger
I.
Mia sah ihrem Vater beim Auspacken zu. Den neuen Bildschirm für den Computer hatte er
schon angeschlossen. Jetzt zog er das neue Hemd aus der Plastikhülle.
„Fürchterlich, diese vielen Stecknadeln!“, seufzte er. Mit ihnen war das Hemd auf einer Pappe glatt gehalten worden.
Mia nahm eine aus dem bereits angewachsenen Häufchen und hielt sich das glänzende Etwas vor die Augen.
„Darf ich die hier haben?“, fragte sie.
„Wozu brauchst du denn eine Stecknadel?“, wollte ihr Vater wissen.
„Nur so – ich finde, sie glitzert so schön. Ich pass auch auf, dass ich mir damit nicht in den Finger steche – darf ich sie jetzt haben?“
„Na gut. Räumst du mir bitte noch den Karton aus dem Weg und stellst ihn vor die Wohnungstür? Da kann ich ihn leichter klein machen und so zum Müll
bringen.“
„Geht klar!“
Erst legte Mia die Stecknadel neben die anderen zurück, dann nahm sie den Karton in die Hand und schaute hinein. Darin war neben dem bereits
zusammengefalteten Verpackungsmaterial auch noch eine Art kleines weißes Kissen.
„Sag mal, Papa, hast du das vielleicht übersehen?“
„Nein, das kann auch weg. In solchen Beutelchen ist nur etwas Salz, damit empfindliche Geräte beim Transport nicht unter der Luftfeuchtigkeit leiden. Fährt ein Laster mit so einem Bildschirm durch Regen oder Nebel, könnte die Feuchtigkeit in der Luft womöglich der Elektronik schaden.“
„Und was kann das Salz dagegen tun?“
„Das Salz zieht die Feuchtigkeit an und bindet sie fest, sodass sie nicht mehr woanders hin kann.“
„Das ist ja praktisch!“, meinte Mia und brachte nun den Karton vor die Wohnungstür. Als sie in das Arbeitszimmer des Vaters zurückkehrte, überreichte er ihr eine kleine Zündholzschachtel.
„Ich habe deine Stecknadel da hineingelegt, damit sie nicht so leicht verloren geht.“
„Danke, Papa!“, sagte Mia und gab ihm ein Küsschen auf die Nase. „Ich schau jetzt mal, ob Florian schon unten ist. Wir haben uns heute zum Spielen
verabredet.“
Während Mia ins Wohnzimmer flitzte, steckte sie sich die Zündholzschachtel mit der Stecknadel in die Hosentasche. Vom Balkon des Wohnzimmers aus sah sie unten auf dem verkehrsberuhigten Platz vor dem Haus Florian über die Bänke hüpfen. In der Mitte des Platzes waren eine Laterne mit dem Straßenschild und einige Meter daneben ein Tisch und zwei Sitzbänke ohne Lehnen. Da Tisch und Bänke gleich niedrig waren, eigneten sie sich prima zum über die Zwischenräume Springen.
„Ich komme gleich!“, hallte Mias Stimme vom vierten Stock hinunter.
Florian hätte beinahe den Tisch verfehlt, so einen Schreck bekam er, aber das sah
Mia schon nicht mehr. Sie war bereits in ihre Turnschuhe geschlüpft und jagte die Treppen hinab. Die fünf Stufen vor der Tür des meist schlecht gelaunten
Nachbarn aus dem ersten Stock nahm sie mit einem knallenden Hopser. Aber bevor der an der Tür hätte sein können, saß sie längst auf dem Treppengeländer
und rutschte das letzte Stück bis kurz vor der Holzkugel an seinem Ende. Da sprang Mia ab und rannte zur Haustür. Die ging so schwer auf, dass sie mit
beiden Händen an ihr ziehen musste.
Obwohl die Autos in der Straße vor dem Haus eigentlich nur ganz langsam fahren durften, schaute Mia erst nach links, dann nach rechts, dann wieder
nach links, bevor sie sie überquerte. Es gab ja leider immer wieder solche Spinner, die selbst durch so eine Spielstraße mit viel zu hoher Geschwindigkeit rasten.
„Rate mal, was ich in meiner Hosentasche habe“, begrüßte Mia Florian.
„Ich weiß nicht, vielleicht ein Stück Schokolade?“
Mia naschte für ihr Leben gern.
„Ganz falsch! Hier schau mal …“
Aber noch bevor sie ihre Hand in die Hosentasche stecken konnte, platzte Leon dazwischen. Leon ging in die Parallelklasse, aber er war bereits um einiges kräftiger und ein großer Fußballfan. Doch keiner mochte mehr mit ihm spielen, weil er alles bestimmen wollte und immer so tat, als ob er alles besser wüsste. Ein echter Angeber also. Außerdem konnte er manchmal ziemlich gemein sein. Erst gestern hatte er von Florian wieder verlangt, dass er ihm Fußballbilder abgeben sollte, sonst würde er ihn verhauen.
Leon schob Mia einfach zur Seite und blaffte: „Na, Kleiner, findest du nur Mädchen zum Spielen? Wo sind die Bilder? Oder willst du lieber ’ne Abreibung?“
Leon wusste, dass Florian Angst hatte. Er grinste, als Florian zu stottern anfing: „Ich … du … ich habe die Fußballbilder nicht dabei, aber ich kann sie ja schnell holen.“
„Du spinnst wohl!“, fuhr Mia dazwischen. „Lass den Florian in Ruhe!“
„Du halte dich da lieber raus!“, sagte Leon, ohne den Blick von Florian zu wenden. „Mit Mädchen verhandele ich gar nicht. Mein kleiner Freund hier hat
sein Versprechen nicht gehalten, jetzt kriegt er Kloppe!“
Und wumms hatte er Florian umgeschubst, schmiss sich auf ihn und drückte ihn mit seinem ganzen Gewicht zu Boden. Florian bekam kaum noch Luft. Mia
wollte ihm helfen und versuchte Leon wegziehen.
Aber der lachte nur: „Keine Chance, Mädchen! Und wenn du jetzt auf mich drauf springen willst, nur zu – dann muss Florian uns beide aushalten.“
Florian war schon ganz rot im Gesicht. Da streifte Mias Hand die Zündholzschachtel in ihrer Hosentasche.
Im Nu hatte sie die Stecknadel in der Hand und … stach zu.
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