buechernachlese.de
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"Die Frauen haben geflüstert: Da ziehen sie hin, die armen Waisenkinder.
Ich hatte nicht übel Lust, mich umzudrehen und zu rufen: Du Arschvotze,
ich bin kein Waisenkind nicht, aber dann ist mir eingefallen, daß
ich doch feste lernen muß, um am Jahresende das Francie-Brady-ist-kein-böser-Bub-mehr-Diplom
zu kriegen. Da hab ich ihr statt dessen einen traurig-beschämten Blick
zugeworfen."
Noch ist Francie Brady kein Schlächterbursche.
Irgendwann in den späten 50ern oder frühen 60ern. In einer
irischen Kleinstadt. Seine Mutter hatte sich erst kürzlich umgebracht.
Angeblich, weil Francie abgehauen ist, in Wirklichkeit wohl eher wegen
ihre Katastrophe von Ehemann, der noch weniger zum Vater taugt und das
wenige Geld fast ausschließlich in Stouts umsetzt. Francie Brady
landet jedenfalls in der "Schule für böse Buben". Warum,
war ihm nicht ganz klar. Hatte Philipp Nugent nicht gerade noch den "ersten
Preis für Schweinebäbä" gewonnen? Der von Francie abgeforderte
Haufen auf dem Badezimmerteppich hat doch gut ausgesehen, wie ein U-Boot ...
Und als Francie, mißbraucht von dem priesterlichen (sic!) Aufsichtspersonal,
endlich wieder entlassen wird, hat Joe, sein allerbester Freund Joe Purcell
nur noch Augen für Philipp Nugent und will von Francie nichts mehr
wissen. Klar, wer daran schuld ist. Wenn Mrs. Nugent nicht gegen Francie
intrigiert hätte, um ihrem kleinen Philipp einen Freund an die Seite
zu stellen, und wenn Mrs. Nugent nicht immer schon auf Francie und seine
Familie wie auf eine Herde dreckiger Schweine herabgesehen hätte,
ja dann wäre sie auch nicht mit aufgeschlitzter Kehle in Laddys Kalkgrube
gefahren ...
Jetzt ist Francie Brady ein "Butcher Boy", zu deutsch: Schlächterbursche.
Zum einen hatte er nur noch in Laddys Schlächterei Arbeit gefunden,
angefangen vom Abholen der Essensabfälle bishin zum Bolzensetzen auf
Schweineschädel, zum anderen wurden auch jene weltweit berüchtigt
gewordenen Liverpooler Säuglingsmörder von der Boulevardpresse
zu "Butcher Boys" verkürzt. Aber wer in DER SCHLÄCHTERBURSCHE
von Patrick McCabe nun seitenlanges Gemetzel erwartet, wird enttäuscht.
Dieser mitreißende Roman geht weit über das geile Nacherleben
eines Skandalons hinaus. Er dringt in eine bis dato zumeist ins Happy End
zerredete Hemisphäre, von der nur Franz Josef Degenhardt einst im
Klartext gesungen hatte: "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing
nicht ihre Lieder". Eine Gesetzmäßigkeit, die bis heute
gilt. Oder sähen Sie es gern, wenn Ihr Kind mit so einem verwahrlosten
Underdog Umgang hätte? Aber wie verarbeitet so einer wie Francie eine
Ausgrenzung nach der anderen? Er ist noch nicht einmal intelligent, wie
es unser aller Großkritiker von seinen Romanhelden fordert. Er leidet
an Schizophrenie. Seine Phantasie ist von paranoider Sprunghaftigkeit.
Sein Irrwitz entbehrt zwar nicht der Situationskomik, wird aber stets von
einem beklemmenden, die Denunziation verweigernden Unterton begeleitet,
der einem das entspannende "Alles halb so schlimm" versagt. Und
dann die Sprache, die der irische Autor und sein Übersetzer H.-C.
Oeser für Francies Monolog gefunden hat: In der Diktion scheinbar
freie Rede ist sie metaphernreich, ohne irgendeinen Slang oder Dialekt
zu bemühen.
So einzigartig die Geschichte scheint, sie könnte
so ähnlich von vielen erzählt werden, die bei ihrer Geburt auf
der "falschen" Seite dieser Welt geboren worden sind. Ein verdienstvolles,
preiswürdiges Leseabenteuer also, das den Blick auf das potentielle
Andere in jedem von uns schärfen hilft.
Weitere Besprechungen zu Werken von Patrick McCabe siehe:
Patrick McCabe: Der Schlächterbursche (1995)
Patrick McCabe: Breakfast on Pluto (2000)
Patrick McCabe: Die heilige Stadt (2012)