buechernachlese.de
|
Arne ist der einzige Überlebende eines Selbstmorddramas. Der 12-jährige
wird von einem Schiffsabwracker aufgenommen, der mit Arnes Vater seit langem
befreundet war. Während er, seine Frau und sein ältester Sohn
Hans den verstörten Jungen sehr schnell liebgewinnen, bleiben die
fast gleichaltrigen Geschwister Lars und Winnie bis zuletzt auf Distanz
zu Arne. Arne ist anders, er sieht in seiner Phantasie Dinge, die es gar
nicht gibt und ist in der Schule ein sprachbegabter Überflieger, der
alsbald eine Klassenstufe überspringt. So gelangt er in Winnies Klasse,
in die er sich von Anfang an verliebt hatte. Doch das Mädchen verhilft
ihm noch nicht einmal zu der ersehnten Aufnahme in ihrer Clique. Am Ende
stürzt Arne sich in die Elbe und wird nicht wieder gefunden.
In dem neuesten Roman von Siegfried Lenz räumt der knapp 20-jährige
Hans die Hinterlassenschaften Arnes zusammen und hangelt sich nun an ihnen
von Assoziation zu Assoziation. Seine Sprache erinnert dabei an die Zeiten
Storms oder Fontanes, als die Arbeiten eines jeweiligen Landstriches noch
den allgemeinen Sprachgebrauch prägten. Ohne jeden Anglizismus hat
das einen wunderbaren Klang und ist von hoher Ausdruckskraft. Doch man
kann sich an dieser Sprache solange besoffen lesen wie man will, früher
oder später sind die Mängel der Komposition unübersehbar.
Das ist weder Fisch noch Fleisch, weder Psychogramm noch Jugendbuch. Dabei
hätte gerade ihre Sprache zu einer gelungen quergebürsteten Irritation
verhelfen können, spielt die Geschichte doch angeblich in den letzten
Jahren unseres Jahrzehnts. Sie erweist sich jedoch schließlich nur
als das Verführerischste einer Serie von Anachronismen, die einen
am Ende das Buch verärgert zuklappen lassen. Wo gibt es u.a. noch
Gymnasien, in denen Schüler aus höheren Klassen als "Vorturner"
für jüngere agieren? Nota bene: Das Ganze soll sich dieser Tage
in Hamburg begeben haben! Jener verläßliche "Vorturner"
ist natürlich der Erzähler Hans, dessen behaupteter Altruismus
neben seiner ebenso behaupteten Altersweisheit das Niederschmetterndste
an diesem Werk ist. Klaglos überläßt der seinerzeit 17-jährige
die Hälfte seines kleinen Dachzimmers und findet es auch nicht weiter
erklärungsbedürftig, das sich der 12-jährige immer wieder
bei ihm trostsuchend ankuschelt. Hans ist von solch antiseptischer Beschaffenheit,
das man ihm das "Unschuldige" solcher Situationen sofort glaubt
- doch dessen Antiseptik wird genauso nur behauptet, wie auch seine Eltern
ganz "einfach nur helfen" wollen. Unberührt von den vielfältigen
Medien unserer Zeit, scheint es außer Telefon und Plattenspieler
in diesem dramatisch aufgeladenen Bullerbü bei Hamburg auch weder
Sozialämter, noch Therapeuten oder auch nur halbwegs psychologisch
sensibilisierte Lehrkräfte zu geben - und ihr Fehlen nimmt Lenz so
selbstverständlich hin, wie es vielleicht noch für die Nachkriegszeit
zu akzeptieren gewesen wäre. In seiner elfenbeintürmernen Ahnungslosigkeit
ist dieser "Roman" insgesamt eine große Enttäuschung und kann
auch nicht als "Alterswerk" entschuldigt werden.
Weitere Besprechungen zu Werken von Siegfried Lenz siehe:
Siegfried Lenz: Ludmilla (1996)
Siegfried Lenz: Arnes Nachlaß (1999)