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"Die Universitäten sind im Kern verrottet," resümierte
bereits Anfang der neunziger der damalige Vorsitzende des Wissenschaftsrates
Dieter Simon. Peter Glotz, bildungs- und forschungspolitischer Sprecher
der SPD , stellt dieser Aussage nun in drei Kapiteln seine Thesen gegenüber.
Die summarische Schilderung des Ist-Zustandes am Anfang des Buches
macht deutlich, daß es ihm keinesfalls um eine moralische Auslegung
dieser "Kernfrage" geht, sondern um den strukturellen Niedergang universitärer
Bildungs- und Forschungsstätten in Deutschland. Diese Strukturen sind
denn auch nicht "im Kern verrottet", sondern schlicht krank - und
damit noch heilbar.
Die Bundesrepublik ist im internationalen Vergleich zwischen 21 Staaten
auf die Plätze 17 und 21 abgesunken, wenn man die Anteile der Gesamtausgaben
für Hochschulen und Bildung am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt zugrunde
legt. Glotz räumt dabei ein, daß diese Fehlentwicklung über
die Jahre hinweg bis zum aktuellen Machtpoker zwischen Bund und Ländern
parteiübergreifend zu verantworten ist - nur: "Zänkisches
Aufrechnen bringt niemandem etwas."
Dann geht Glotz, selber Professor an der Uni München, ans Eingemachte:
Die Kommunikationsstränge innerhalb der Hochschulen sind desolat beziehungsweise
die Bereitschaft der Disziplinen, Forschungsergebnisse mit der Lebenspraxis
handelnder Menschen in Beziehung zu setzen, mangelhaft - ganz zu schweigen
vom interdisziplinären Austausch. Es haben sich in der Bundesrepublik
4000 Klein- und Kleinststudiengänge herausgebildet, mit der Folge:
"Die Universität gibt tausend Einzelantworten, traut sich eine
Synthese und die Arbeit der Zuspitzung aber gar nicht mehr zu." Anstatt
sich den großen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte zu
stellen, zum Beispiel der künftigen Umwandlung in eine Informationsgesellschaft
(Stichwort: Multimedia), wird in Deutschland Fakultät für Fakultät
"gehorsam rezipiert".
"Das eigentliche Problem aber liegt in der vorsintflutlichen Managementstruktur
der Hochschulen; und dieses Defizit haben Staat und Hochschule höchst
gemeinsam verursacht." Nachwievor gibt es festgelegte Einzelbudgets,
von denen keine Mark ins folgende Steuerjahr übertragen werden darf,
was wiederum Dezember für Dezember ein "wildes Ausgabenfieber"ausbrechen läßt. Was aber das Gejammere hiesiger Dozenten
und Professoren über die derzeitigen Studentenjahrgänge angeht,
führt Glotz sehr treffend Dieter Langewiesche an: "So mancher Doktor,
der über den Leistungsverfall der deutschen Massenuniversität
klagt, würde heute statt des immer noch klingenden Doktortitels lediglich
den glanzlosen Magistergrad erhalten."
Im folgenden referiert Glotz die "großen Würfe" wie
die Vorschläge zur Hierarchisierung (Herausfiltern der Eliten oder
die Trennung von Forschung und Lehre), zur Privatisierung oder zu einem
Bildungsgutscheinsystem - aber die sorgten allesamt nur für eine "wunderbare
bengalische Beleuchtung", änderten aber nichts an der Realität.
Der einzig erfolgversprechende Weg sei ein bereits 1987 von Martin Trow
vertretener Ansatz, nämlich "eine Strategie von unten(..), eine
Strategie des Losbindens, der Entkoppelung.(..) Der Staat muß Leine
lassen, und die Leute in den Hochschulen müssen eigene Wege gehen."
Dies würde einen sinnvollen Wettbewerb zwischen den Hochschulen eröffnen,
erforderte aber auch eine Neustrukturierung der Mittelzuweisungen.
Glotz ist desweiteren für die Einführung von Studiengebühren
(in etwa 1000 DM pro Semester). Ist er damit ein Verräter ursozialdemokratischer
"Grundwerte"? Glotz hält dagegen, daß immer mäßiger
werdende Studienbedingungen zum Nulltarif keine Chancengleichheit fördern,
und es sei auch nicht einzusehen, daß Kindergartengebühren legitim,
Studiengebühren für Menschen mit Aussicht auf ein überdurchschnittliches
Lebenseinkommen aber illegitim seien. Und natürlich will er die Zugangsmöglichkeiten
von Kindern aus der "Arbeiterschicht" keineswegs verschlechtern.
Im Gegenteil: Mit seinen vorgestellten flankierenden Maßnahmen seien
diese unterm Strich sogar noch zu verbessern. Dazu müßten unter
anderem die Stipendien für Kinder aus "Arbeiterhaushalten"
verstärkt, die überdurchschnittlichen Bezüge von Verwaltungsstudenten
(Beamtenanwärtern) nivelliert, ein Studienfonds "zur Qualitätssicherung
der Hochschulen" eingerichtet und der Staat zu einem realistischem
Beitrag an der Studienfinanzierung verpflichtet werden. Dagegen wäre
die bisherige unzureichende Anpassung der Bedarfssätze und Freibeträge
dafür verantwortlich, daß bereits jetzt immer mehr Familien
"aus dem System herausgefallen" seien. (Der Anteil von Studenten
aus einkommensschwachen Schichten ist in den letzten zwölf Jahren
von 24% auf 12% gesunken.) Demnach sind also keine "exorbitanten zusätzlichen
Mittel" nötig, sondern ein Durchforsten der unterschiedlichen
Formen des Bildungstransfers(Kindergeld, Kinderfreibeträge, Wohngeld).
Grundvoraussetzung sei allerdings, daß "die Galgenvögel von
Finanzministern" die einzunehmenden Studiengebühren nicht zweckentfremden
und der Staat die Studenten nicht für die Grundsicherung eines Studiums
zweimal zur Kasse bitten.
Spätestens die letzeren Einlassungen gemahnen an das Kleingedruckte
in einem Vertrag oder an den berüchtigten "Pferdefuß".
Glotz muß sich von daher zumindest den Vorwurf gefallen lassen, daß
sein Eintreten für "Entkoppelung" wohl seriös pragmatisch
gemeint ist, dem realen Kontext politisch lobbyistischer Prioritätensetzungen
aber nicht länger als eine Seifenblase standhält.
Fazit: Peter Glotz erweist sich in seinen Überlegungen durchaus
als ein kultivierter Polemiker. Zuweilen punktgenaue Zuspitzungen korrespondieren
mit dem Wissen um die Fehler aus den eigenen Reihen und dem Streben nach
vermittelnder Sachlichkeit. Seine Kernthesen zur Kommunikationsstruktur
und zur "Strategie der Entkoppelung" sowie das Verpflichten des
Staates zur entsprechenden Rahmensetzung sind allerdings mehr der literarischen
Fiktion vom Wünschenswerten als dem politisch durchsetzbar Gewolltem
geschuldet. Ein Peter Glotz allein, und sei er noch so integer, kann in
das Geflecht aus Eigennutz und Eitelkeiten keine Bresche schlagen. Seine
Intentionen werden höchstens ins Gegenteil verkehrt wie derzeit das
Integrationsmodell bei steigenden Klassenfrequenzen und verringertem Lehrerpersonal
in den allgemeinbildenden Schulen.
Weitere Besprechungen zu Werken von Peter Glotz siehe:
Peter Glotz: Im Kern verrottet? (1996)
Peter Glotz: Die Jahre der Verdrossenheit (1996)