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Seit neun Monaten feiert Tom Kettle in aller glückseligmachenden Nutzlosigkeit seinen Ruhestand in einer kleinen Einliegerwohnung mit Blick auf den Coliemore Harbour und die Irische See. Doch an einem Frühlingsnachmittag klopfen zwei ehemalige Kollegen an seine Tür und wollen ihn zu einem alten Mordfall befragen. Das reißt in Tom Kettle tiefsitzende Wunden auf, denen er sich eigentlich nicht mehr stellen wollte …
Mit "Jenseits aller Zeit" lässt Sebastian Barry diesmal einen vermeintlich abgeschlossenen Mordfall zum Auslöser einer ungewollten Kaskade an Erinnerungen für einen Kriminalbeamten werden, die sich jedoch nicht chronologisch oder auch nur eindeutig fassen lassen.
Wohl denen, die trotz solcher Reizwörter wie "Kriminalbeamte" und "Mordfall" hier von Anfang an keinen handelsüblichen Kriminalroman erwarten - denn dank der kongenialen Übersetzung durch Christian Oeser vermag dieser Roman nicht zuletzt wegen der nachspürbaren Sprachfertigkeit des Autors ein Vexierbild von Lebensgeschichten in der Republik Irland Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts zu zeichnen, das gerade wegen seiner Uneindeutigkeiten, Unschärfen und Widersprüchlichkeiten weit wahrhaftiger ist, als jedes Polizeiprotokoll.
Weit mehr als um die Auflösung des besagten alten Mordfalls geht es darin um bedeutend gewordene, meist mit treffsicherer Selbstironie beschriebene Alltagsbeobachtungen eines Ruheständlers, die Begegnungen mit dem Hausbesitzer und den Nachbarn oder auch der Natur in Form von Kleingetier oder einfach den Wetteränderungen rekapitulieren. Und in dieses geruhsame Dasein sprengt der Besuch der ehemaligen Kollegen dann erste Keile, die an weit vor dem Mordfall beruhende Schrecknisse gemahnen - aber auch an das Glück mit seiner viel zu früh verstorbenen Frau und ihrer beider Kinder erinnern. Eine Leserschaft, die einer ähnlichen Generation wie Tom Kettle angehört, wird sich schon bald wiederfinden in dieser permanent wechselnd schillernden Melange aus Gegenwart und Vergangenheit mit so ganz anderen Prioritäten, als Jugendliche sie setzen würden bzw. setzen können.
Aber neben der so hervorragend detailreichen wie virtuosen Sprachregelung sei nicht zuletzt auch für die jüngeren noch einmal hervorgehoben: es geht hier um Lebensgeschichten in der Republik Irland von Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts - und damit zugleich um eine seinerzeit in jeder Hinsicht maßgebende Größe wie die katholische Kirche mit Amtsträgern, die diese Kirchengemeinschaft heute nur allzu gern verleugnen würde und deshalb einstige Angehörige nur noch an den Geist der Rache glauben lässt …
Und das erzeugt dann, wenn auch später als gewohnt, durchaus einen über die Sprachfertigkeit des Autos hinausgehend einnehmenden Sog, der eine/n bis zum überraschend tröstlichen Finale nicht mehr loslässt.
Geduld wird hier belohnt mit einem vielschichtigen Lesegenuss!
Weitere Besprechungen zu Werken von Sebastian Barry siehe:
Sebastian Barry: Tage ohne Ende (2018)
Sebastian Barry: Tausend Monde (2020)
Sebastian Barry: Annie Dunne (2021)
Sebastian Barry: Jenseits aller Zeit (2024)