Startseite: Textenetz von Ulrich Karger


Textenetz | E-Mail-Interview mit Volker Kühn


Das Interview von Ulrich Karger mit Volker Kühn wurde zwischen 05/2002 und 10/2003 via E-Mail-Korrespondenz geführt. Seine lange Dauer erklärt sich mit dem vielseitigen Engagement dieser "Grauen Eminenz" des Kabaretts - unter anderem als Regisseur, Buchautor, Produzent und Nachlassverwalter von Wolfgang Neuss.

Erstveröffentlichung: Textenetz 26.10.2003

Am Ende des Interviews ist ein Gedicht von Volker Kühn nachzulesen:
  • Der Würger mit dem Rosenkranz

  • Homepage-Archiv von Volker Kühn:
  • www.vauka-berlin.de

  • Artikel zu Volker Kühn im Textenetz:
  • E-Mail-Interview mit Volker Kühn (2002/03)
  • Eine Geschichte des Kabaretts (2010)
  • Nachruf auf Volker Kühn (2015)

  • In der Büchernachlese besprochene Titel von Volker Kühn:
  • Deutschlands Erwachen - Kabarett unterm Hakenkreuz
  • Hierzulande: Kabarett in dieser Zeit ab 1970
  • Wir sind so frei - Kabarett in Restdeutschland 1945-1970
  • Fisch sucht Angel (Buch und Regie zu einem Stück mit Tucholsky-Texten)



  • Ulrich Karger:
    Für Liebhaber der Kabarett-Szene hat Dein Name einen guten Klang als Herausgeber von Wolfgang Neuss-Texten oder das ganze 20. Jahrhundert einfangenden Kabarett-Anthologien, vor allem aber als TV- und Theater-Regisseur, der z.B. in letzter Zeit Revuen mit wieder neu zu entdeckenden Spoliansky- und Hollaender-Couplets initiiert. Ein spiritus rector, der stets im Hintergrund wirkt, ohne den so manches unserem kollektiven Gedächtnis schon längst verloren gegangen wäre, der sich aber - wenn überhaupt - höchstens beim Schlußapplaus ganz kurz auf der Bühne zeigt.
    Gab es eine Zeit, wo Du auch als Schauspieler bzw. Interpret Deiner eigenen Texte auf der Bühne gestanden bist?

    Volker Kühn:
    Nein. Aber es sind Ausnahmen denkbar. Wie damals, vor Jahrzehnten, als ich in den USA mit einer deutschsprachigen Schauspieltruppe unterwegs war. Da brach sich einer meiner Schauspieler mal ein Bein. Wir spielten damals eine von mir inszenierte Curt Goetz-Komödie ("Ingeborg"). Da mußte ich als Diener Konjunktiv einspringen.
    Auch für Judy Winter, die in der Akademie der Künste im vergangenen Jahr in einer Matinee Hollaender-Texte lesen sollte und wegen einer Grippe ausfiel, habe ich mich ans Vortragspult gestellt.
    Und dann, natürlich, habe ich als Autor im Fernsehen und auf Lese-Reisen hin und wieder eigene Texte vorgetragen. Aber nicht sonderlich gern und ohne Begeisterung.
    Wenn's um das gesprochene Wort geht, höre ich lieber zu. Und als Regisseur käme ich nie auf die Idee, mich zu besetzen.

    Ulrich Karger:
    Wie bist Du überhaupt der elften Muse verfallen?


    Volker Kühn:
    Gute Frage. Wie die, ob das nun eigentlich die zehnte oder schon die elfte Muse ist. Da sind sich die Experten immer noch nicht einig und zählen verschieden.

    Ulrich Karger:
    Hatte es etwas mit der Politisierung während der 68er Jahre zu tun - Stichwort: Reichskabarett zusammen mit Volker Ludwig?

    Volker Kühn:
    Der Anfang war früher. 1963 kam ich, knapp 30, aus Amerika zurück, wo ich vier Jahre zwischen Montreal und New Orleans, Berkeley und New York hin und her gestromert bin.
    Im Westen lernte ich Henry Miller und Lawrence Ferlinghetti kennen, die Beatniks und ihren Word-Jazz. Das und die Begegnung mit Martin Luther King haben mich damals stark politisiert. Zurück in Deutschland, bot man mir einen Job als Redakteur beim Hessischen Rundfunk an. Unterhaltung pur fand ich langweilig und suchte nach neuen Möglichkeiten, Radiosendungen zu machen. So kam ich aufs Kabarett, produzierte, schrieb und inszenierte eine satirische Monatsbilanz, die ich "Bis zur letzen Frequenz" nannte. Auf der Suche nach Mitarbeitern geriet ich an Wolfgang Neuss. Der gab mir und meiner aufkeimenden Vorliebe fürs Kabarettistische dann den Rest - einmal infiziert, immer süchtig. Über Neuss kam ich dann zum Berliner Reichskabarett, wo ich ab 1966 mit Volker Ludwig zusammen sogenanntes Apo-Kabarett machte.

    Ulrich Karger:
    Ende der 60er warst Du bereits weit jenseits der 30er-Vertrauensschallgrenze ...

    Volker Kühn:
    Stimmt. Als der Slogan "Trau keinem über dreißig" aufkam, hätte ich nach Adam Riese eigentlich schon gemeint sein müssen. Aber ich fühlte mich nicht angesprochen, also jünger. Und alle, mit denen ich zu tun hatte, sahen das wohl auch so.

    Ulrich Karger:
    Von anderen Autorenkollegen und - kolleginnen weiß ich, dass sie, um davon leben zu können, pro Jahr mindestens ein, wenn nicht mehrere Bücher "auf den Markt werfen" müssen - wie war das bei Dir?

    Volker Kühn:
    Ich habe das Bücherschreiben immer als schönste Nebensache der Welt angesehen. Also habe ich mich früh darauf eingerichtet, nicht davon leben zu müssen. Und mir die Themen ausgewählt, über die ich wirklich schreiben wollte, die mich interessierten. Das hat mich gegenüber Marktchancen ziemlich gelassen werden lassen. Und mir manche bittere Enttäuschung erspart, denke ich. Immerhin liebäugelt meine Thematik (Kabarett und Satire) doch sehr mit den Vorlieben einer Minderheit.

    Ulrich Karger:
    Du hattest also stets mehrere Projekte gleichzeitig am Köcheln?

    Volker Kühn:
    Immer.

    Ulrich Karger:
    Und gab es auch Perioden, z.B. an einem Ensemble oder in der Zusammenarbeit mit Wolfgang Neuss, die Dir so etwas wie eine längere Kontinuität ermöglichten?

    Volker Kühn:
    Klar. Soweit es das Kräftespiel zwischen Angebot und Nachfrage zuließ.

    Ulrich Karger:
    Konntest Du eigentlich immer von Deiner Arbeit als Regisseur und Autor leben oder mußtest Du auch mal phasenweise anderen "Brotberufen" nachgehen?

    Volker Kühn:
    Gottlob nie. Brotberufe und ungeliebte Jobs sind mir erspart geblieben. Da war ich immer privilegiert. Alle Projekte, die ich in Angriff nahm, wollte ich auch machen, ohne Wenn und Aber. Ich weiß: das ist ein Privileg, und ich weiß es zu schätzen. Mehr noch: bin dankbar dafür.

    Ulrich Karger:
    Kennengelernt haben wir uns durch meine Bitte um honorarfreie Abdruckerlaubnis eines Wolfgang Neuss Textes in der Literaturzeitschrift 'Österreichisches Literaturforum', der Du als sein Nachlassverwalter sofort und umkompliziert entsprochen hast. Zu dem Thema "Liest ER eigentlich?" schicktest Du mir dann sogar auch einen eigenen Text zur Veröffentlichung - der dann aber ärgerlicherweise wegen seiner Länge von meinem Chefredakteur nicht aufgenommen wurde. In diesem Text (Geschmacksachen von 1980) kommt eine geharnischte Kritik an den christlichen Kirchen zum Ausdruck, allerdings auf eine Weise, die weit über die Klischees hinausgeht und Insiderkenntnisse verrät.
    Inwieweit spielt(e) eine der Kirchen eine Rolle in Deiner persönlichen Vita?


    Volker Kühn:
    So gut wie keine. Außer: ich bin Pastoren-Enkel. Und Urenkel. Und Ururenkel. Und Urururenkel. Von meinem Großvater führt die Ahnenreihe zurück bis zu Pastor Johannes Lenz, der um 1580 in Dramburg auf der Kanzel stand. Ob das meine Hinwendung zur Kabarett-Botschaft beeinflußt hat - das weiß der Teufel. Gottlob.

    Ulrich Karger:
    Hat sich das Verhältnis zu kirchlichen Institutionen im Laufe der Jahre geändert? Vielleicht auch analog zu gewissen Blickverschiebungen im links-politischen Spektrum nach Öffnung der Mauer?

    Volker Kühn:
    Nein.

    Ulrich Karger:
    Kirche und Religion ist ja für viele durchaus zweierlei. Das erste womöglich Teil der Herkunft, das zweite eine (neu) gewonnene Lebenshaltung - gibt es religiös oder spirituell bestimmte Momente in Deinem Leben? Oder anders gefragt: Glaubst Du an ein übergeordnetes Drittes, das unser aller Lebensanfang gesetzt hat, oder sind wir nur das Ergebnis eines Zufalls?

    Volker Kühn:
    Mein Gott, das ist ja wohl eine der Fragen aller Fragen. Wie die, was nach uns kommt. Was war am Anfang? Wird schon was gewesen sein. Und an Zufälle mag ich nicht so recht glauben. Vielleicht hat sich ein Wissenschaftler das alles ausgedacht und so lange an einer Formel gestrickt, bis sich dies bißchen homo sapiens aus der Retortenflasche befreite. Anders ausgedrückt: Bei der Antwort muß ich passen. Und tu's gerne. Lassen wir's bei dem Geheimnis. Ich kann damit leben: ich weiß, daß ich nichts weiß.
    Und lassen wir's bei der schönen Geschichte: Was machte Gott ehe er die Welt erschuf? Er saß hinter einer Hecke und schnitzte Ruten - für Leute, die unnütze Fragen stellen.

    Ulrich Karger:
    Pardon, wenn ich trotzdem nachhake. Das Geheimnis mag dabei Geheimnis bleiben, aber Du hast am Anfang eine Begegnung mit Martin Luther King erwähnt, ein Mann immerhin, der sein politisches Wirken gegen Rassismus ja nicht zuletzt auf Gewaltfreiheit stützte, die er wiederum mit seinem christlichen Glauben begründete ...

    Volker Kühn:
    Ja. Und? Ich habe auch andere Bürgerrechtler erlebt, die ihren Kampf für die Ideale der französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - nicht aus der Bibel ableiteten und dennoch zu gleichen oder ähnlichen Ergebnissen kamen wie Luther King. Sie hatten's vielleicht sogar einfacher - ohne den Umweg, das Gebot christlicher Obrigkeitshörigkeit umschiffen zu müssen oder dialektisch mattzusetzen.

    Ulrich Karger:
    Und die Herkunft aus einer Pastorendynastie, die bis ins 16. Jahrhundert reicht, ist ja auch nicht ohne ...
    Wie war Dein Kontakt zum großväterlichen Pastor?

    Volker Kühn:
    Ich habe ihn als Kind erlebt, er starb als ich elf war. Ich habe ihn als großen, alten, gutmütigen Mann mit Rauschebart in Erinnerung. Einmal, 1944 war das, während des Zweiten Weltkriegs, habe ich ihn noch im Kolberger Dom erlebt, wie er dort als 83jähriger auf der Kanzel stand und eine Predigt hielt. Da war ich natürlich sehr stolz auf ihn.
    Was ich damals nicht wußte: Pastoren waren in den vierziger Jahren Mangelware, seine jüngeren Kollegen waren an der Front und damit beschäftigt, die Waffen zu segnen.

    Ulrich Karger:
    War er Auslöser jener Sicht in "Geschmacksachen", die Kirche lediglich mit Heuchelei und Machtstreben gleichsetzt?

    Volker Kühn:
    Nein.

    Ulrich Karger:
    Und wie ist es in diesem Zusammenhang mit Deinen Kindern? Welche Haltung zum Leben wolltest und willst Du ihnen vermitteln? Auf welcher Grundlage?

    Volker Kühn:
    Humanismus.

    Ulrich Karger:
    Zum Schluss noch die Frage - und wie geht's weiter? Mittlerweile schreiben wir das Jahr 2003, Du bist nun bald 70, und es war wahrhaftig nicht leicht, Dich über die Monate zu erreichen und Dir für dieses Interview Antworten abzuringen ...

    Volker Kühn:
    Im Moment bin ich in höllischem Stress - tausend Projekte und so, und nicht eingehaltene Termine.
    Nur in Stichworten: Ich muß jetzt endlich meine Schularbeiten in Sachen Beltz machen, das Werk muss im Frühjahr auf dem Ladentisch sein. Dann mein Buchprojekt bei Parthas, dann die Judy-Tournee mit "Marlene", da muß ich die ersten Tage mit wegen Wiederaufnahmeproben etc., dann komme ich im Dezember am Renaissance-Theater mit einem Theaterprojekt raus, dann gibt's ein wissenschaftliches Werk, in dem ich drin bin und noch schreiben muss, dann ist ein Gedenkartikel für Alfred Edel für Anfang September zugesagt (gewesen), dann muss ich für den HR ein Feature schreiben über Hitlers Kabarett-Künstler, dann soll das Material zu einem Essay umgearbeitet werden, der im Insel-Verlag rauskommt...
    Reicht's? Mir wird selbst ganz schwindlig. Ach, ich vergaß: ich mache drei CD-Projekte über Neuss, davon ein dickes, zweiteiliges Hörbuch.
    So sieht's aus. Ich brauche also noch Zeit, im Moment fehlt sie mir an allen Ecken.

    Ulrich Karger:
    Ich sehe: Der Vorhang ist weit offen und tief betroffen lass ich jetzt das Fragen sein ...
    Nur noch soviel: Herzlichen Dank für den virtuellen Austausch, alles Gute für die Zukunft und Toi-toi-toi für alle Deine Projekte!

     

    Der Würger mit dem Rosenkranz
    von Volker Kühn in Pardon (1/1981)


    Joseph Kardinal Höffner
    So hört man
    Betätigt sich neuerdings
    Als Radikaler
    Im öffentlichen Dienst.
    Der Hirtenbriefschreiber
    Im schwarzen Rock
    Predigt Terror
    In allerhöchstem Interesse
    Und fordert den Mord
    Von Staats wegen.
    Die Todesstrafe
    Soll wieder her
    So will es
    der Knatter-Kleriker.
    Die Rübe soll ab.
    Der Staat soll wieder
    So Hochwürden Senilissimus
    Von Steuerzahlers Gnaden
    Galgen, Strick, Hackmesser
    Und den E-Stuhlgang
    verordnen.
    Jupp Höffner
    Der Möchtegern-Killer
    des GG 102
    Will schon den Himmel auf Erden
    Für unerwünschtes Gesindel.
    Den einschlägigen Paragraphen
    88 und 130
    Jeweils Absatz a
    Wird derart
    Auf göttliche Weise
    Genüge getan.

    Der Profi-Christ
    Will also Blut sehen.
    Die Gründe für solch
    Frommes Begehren
    Bleiben im Dunkel
    Der Heiligen Schrift.
    Wer weiß:
    Vielleicht ist Jupps Boss
    Frischfleischverzehrer
    Und der zähen Brocken überdrüssig
    Die IHM
    Immer höhere Lebenserwartung
    bescheret hat
    Und nun lechzt es
    SEINEN irdischen Kutten-Knecht
    Nach jungem Blut
    für den göttlichen Zahn?

    Das Elend ist:
    Wir sind nun mal
    Fürs Leben und Lebenlassen.
    Und das ohne Ausnahme.
    Pardon also
    Selbst für Kardinalfehler
    Wie Aufforderung zu kriminellen Straftaten
    Hier: Kapitalverbrechen
    Als da sind
    Erwiesene Tötungsabsicht
    Sprich
    Mord.

    Wäre dem nicht so
    Wär's einfach.
    Dann Gnade ihm Gott.
    Wäre dem nicht so
    Könnten wir fordern:
    Todesstrafe
    Für die Anhänger der
    Todesstrafe.
    Wäre dem nicht so
    Könnten wir darauf verweisen
    Daß alle Staatsgewalt
    Vom Volke auszugehen hat
    Und Gleiches mit Gleichem vergelten.
    Wäre dem nicht so
    Könnten wir ihn beim Wort nehmen
    Und ihm einen Strick drehen
    Aus solch fürbittender Mordlust
    Und ihn daran himmelwärts ziehen
    Näher
    Mein Gott
    Zu dir
    Bis daß der Kalk da rieselt
    Aus klerikaler Kutte
    Wie weiland leise der Schnee
    Zur weißen Weihnacht.
    Wäre dem nicht so
    Würden wir sagen:
    Kopf ab
    Zum Gebet
    Herr Kardinal
    Beziehungsweise
    Geh zum Teufel
    Gottbefohlen
    Oder einfach
    Pardon
    Monsignore.




    ulrich-karger.de/textenetz/ © Ulrich Karger seit 2002