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Nachdem ein giftiger Nebel die Menschheit nahezu komplett von der Erde getilgt hat, haben nur noch etwa 100 Dorfbewohner sowie eine Handvoll Wissenschaftler überlebt und sich eine friedliche Idylle des Zusammenlebens auf einer kleinen Insel im Mittelmeer geschaffen. Ein komplexes Abwehrsystem schützt die Insel nicht nur vor dem Nebel, sondern geht als eine Art behütendes Über-Ich auch in den inneren Dialog mit jedem einzelnen Bewohner der Insel und sorgt so dafür, dass jeder unnötige Streit oder gar eine Eskalation vermieden wird. Doch dann geschieht nach Jahrzehnten der Gemeinschaft das Unfassbare und es wird eines Morgens die Leiche einer brutal ermordeten Wissenschaftlerin entdeckt …
Mit „Der letzte Mord am Ende der Welt“ legt Stuart Turton erneut eine gänzlich andere Art von Kriminalroman als üblich vor. Mengte er zuvor seinen Kriminalromanen Mittel der Phantastik oder der Fantasy bei, ist es diesmal SF mit einer Betonung auf „Science“ und einer dystopischen Zukunftsvorstellung, die nichts weniger als das Menschenbild per se in Frage stellt – wozu es gerade auch derzeit ja leider mehr als ausreichende Gründe gäbe.
Der Autor geht in seinem Roman aber schon einen Schritt weiter und erörtert buchstäblich die letzten Tage, in denen ein verbliebener Menschheitsrest noch eine winzige Chance hat, sein Überleben zu sichern oder erkennen muss, dass auf die Menschheit am besten gänzlich zu verzichten wäre. Mit dem Mord wurde nämlich automatisch auch besagtes Abwehrsystem der Insel heruntergefahren und es verbleiben nach Auffinden der Leiche nur noch 107 Stunden, um den Mörder dingfest zu machen und damit das Abwehrsystem wieder komplett in Betrieb nehmen zu können. ABER: Keine und keiner erinnert sich und weiß noch, was in der Nacht vor dem Mord geschehen ist. Und dies vor dem Hintergrund eines Miteinanders von Menschen und einer sie freundlich kontrollierenden KI, was beim Lesen sowohl ungeahnte Möglichkeiten suggeriert als auch immerzu (und immer mehr!) Zweifel und Widerspruch provoziert. Somit ist auch der Spannungsfaktor keineswegs auf die für die Protagonisten nur allzu schnell verrinnende Zeit reduziert. Denn auch die bis dato unwidersprochen hingenommenen Klassenunterschiede zwischen Wissenschaftler und Dorfbewohner sind dabei, sich nun rasend schnell aufzulösen …
Ein äußerst vielschichtiges Leseabenteuer also, das mit seinen existentiellen Fragen und überraschenden Volten aufs Beste unterhält und eine/n erst nach dem Zuschlagen der letzten Seite aus seinem Bann entlässt.
Weitere Besprechungen zu Werken von Stuart Turton siehe:
Stuart Turton: Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle (2019)
Stuart Turton: Der letzte Mord am Ende der Welt (2025)