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60 Jahre nach seinem gefeierten Debut und Millionenerfolg "Nenne
es Schlaf" stellte Henry Roth kurz vor seinem Tod 1995 einen zweiten Roman
fertig.
In im ringt der greise Autor Ira Stigman, Jahrgang 1906, mit seinem
zum Gesprächspartner erhobenen Computer Ekklesias um Wahrhaftigkeit,
nennt Gründe für sein langes Schweigen und gewährt zugleich
eine unschätzbare Nahaufnahme eines "working in process". Wegen
der inneren Widerstände, sich seinem ihm noch immer höchst peinlichen
Tabubruch in der Pubertät zu nähern, macht Ira Stigman "Ausflüchte".
Und diese "Ausflüchte" bilden gleich einem wunderbaren Zeitspiegel
die Jahre 1914 bis 1925 in der Lower East Side New Yorks ab. Hier lebten
unter anderen auch viele jüdische Einwanderer aus Galizien. Mitgerissen
von einem pointenreichen Erzählfluß, korrespondieren eingehende
Beschreibungen der näheren Umgebung mit der zartbitteren Situationskomik
eines Kinder -bzw. Jugendlichendaseins im alltäglichen Überlebenskampf.
Und was auf der Hauptebene zumeist in einer ironischen Spitze mündet,
wird dazwischen von den desillusionierenden Einschüben des alten Mannes
unserer Tage gebrochen - teilweise bis zur Schmerzgrenze, aber für
den Leser nie ermüdend.
Letztes Jahr erschienen, handelt der erste Band "DIE GNADE EINES WILDEN
STROMS" die Jahre 1914 bis 1920 ab. Jetzt findet er endlich seine Fortsetzung
in "EIN SCHWIMMENDER FELS AM UFER DES HUDSON".
Ira Stigman ist nun 15 Jahre alt und wechselt auf die Stuyvesant High
School. Fühlte er sich in den ersten Lebensjahren vor allem in seinen
Ängsten alleingelassen und hatte dabei eine immer stärkere Abneigung
gegen seine Familie, seine Herkunft, ..sein Judentum entwickelt, so geraten
nun die Perspektiven für die nähere Zukunft als Erwachsener ins
Blickfeld. Worauf sollte er in der schulischen, später in der akademischen
Ausbildung Wert legen? Was lag ihm und würde ihn auch ernähren?
Und nicht zuletzt: Wie sollte er seinen immer stärker drängenden
sexuellen Trieben gerecht werden?
Höhe- und Schlußpunkt setzt dann Ira Stigmans tragikomisches
"Coming out" als Schriftsteller, das ihm endlich den Rahmen aufzeigt,
in dem er seine scheinbaren Defizite als Talente auszuspielen vermag.
In den USA als das "literarische Comeback des Jahrhunderts" gefeiert,
besticht es neben der erzählerischen, an eindringlichen Metaphern
reichen Qualität durch seine ausgewiesene Option, selbst in hohem
Alter noch Einsichten auf sich selbst zu erlangen und den eigenen Lebenslügen
auf die Spur zu kommen. Sicher eine Ausnahmeerscheinung und eben auch deshalb
ein außergewöhnliches Werk, hervorragend übersetzt von
Heide Sommer.
Siehe auch Rezensionen zu:
Henry Roth: Die Gnade eines wilden Stroms (1996)
Henry Roth: Ein schwimmender Fels am Ufer des Hudson (1997)
Henry Roth: Nenn es Schlaf (1998)