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Joseph Leschinsky, genannt Lesche, hat nach 36 Jahren Aufenthalt genug von Amerika. Er will trotz der Schrecknisse in der Vergangenheit wieder in das Land seiner Sprache zurückkehren. Angekommen im Berlin der 80er findet er dank der jüdischen Gemeinde eine Unterkunft, knüpft sehr schnell Kontakte zur Literaturszene und veröffentlicht in einem kleinen Berliner Verlag seinen im Ausland längst erfolgreichen Roman "Der Jude und der SS-Mann". Obwohl das Originalmanuskript dieses Romans in Deutsch verfasst war, wurde es von den hiesigen großen Verlagen stets mit fadenscheinigen Begründungen abgelehnt. Der Roman wird nun auch hierzulande ein Erfolg, Lesche gelangt zu einigem Ruhm - samt dessen Schattenseite in Form von neonazistischen Drohbriefen ...
Soweit eine kurze Inhaltsangabe von "Berlin … Endstation", dem neuesten Roman von Edgar Hilsenrath, der zwar erneut Impulse der Biographie und sogar abgewandelte Buchtitel des Autors aufnimmt, aber nichtsdestotrotz keineswegs als Autobiographie verstanden werden darf.
Wie der zeitgleich erschienenen Biographie "Ich bin nicht Ranek" von Helmut Braun zu entnehmen, hatte der Piper Verlag im Jahr 2002 nahezu alle Rechte an Edgar Hilsenrath zurückgegeben, d.h. ihn und seine Werke ins erneute publizistische Abseits geschoben. Daraufhin entwickelte Helmut Braun, der seinerzeit Hilsenraths erster engagierter Verleger in Deutschland war, mit dem Autor das Konzept einer Ausgabe Gesammelter Werke, die neben den bereits veröffentlichten Romanen auch "verstreut" publizierte und unveröffentlichte Texte in einem Erzählband sowie einen gänzlich neuen, eben diesen hier vorzustellenden Roman umfassen sollte. Das Konzept überzeugte den Berliner Dittrich Verlag, und seit 2003 werden nun nach und nach, allerdings nicht in chronologischer bzw. numerischer Reihenfolge (siehe Liste unten), die 10 Bände dieser sehr ansehnlich aufgemachten und liebevoll ausgestatteten Werkausgabe vorgelegt. So sind nun unter anderem bereits Hilsenraths so erschütternder wie herausragender Romanerstling "Nacht" (Bd.1), die einmalig alles auf den Kopf stellende Satire "Der Nazi & der Friseur" (Bd.2) oder jene in "Jossel Wassermanns Heimkehr" (Bd.7) von den Ausschwitz-Waggons wegschwebenden Schtetl-Geschichten wieder nachzulesen oder neu zu entdecken. Nicht nur diese drei genannten Titel zeichnen Hilsenrath als einen der wichtigsten und originellsten Shoa-Autoren, ja, als einen der wichtigsten deutschsprachigen Autoren des letzten Jahrhunderts überhaupt aus. Ihre Kraft und der in ihnen formulierte Wagemut kann sich durchaus mit der Nobelpreis gekrönten "Blechtrommel" messen, übertrifft sie womöglich sogar.
Wer sich gerade dank dieser Werkausgabe in das Werk eines Autors verliebt hat, möchte nicht .., kann doch nicht .., muss aber trotzdem ...
Der von Edgar Hilsenrath 2002 fertiggestellte und Anfang 2006 noch einmal mit Lektoratshilfe rechtzeitig zum 80. Geburtstag des Autors überarbeitete Roman "Berlin … Endstation" ist im Vergleich zu seinen Vorgängern zwar halbvoll, aber eben kein Ausrufezeichen setzender Höhepunkt, wie man ihn sich vom numerischen Abschlussband seiner Gesammelten Werke erhofft hatte.
Plastisch anschauliche Szenen und aberwitzige Dialoge über Gegenwart und Vergangenheit stehen neben sachkundlichen, zuweilen sehr plakativen Abschweifungen, solitär eingeschobene, für die Zeitung gefertigte Artikel, neben einigen sehr anrührenden und anderen sehr behauptet wirkenden "Frauengeschichten", - hinreißend auf den Punkt Gebrachtes neben doch recht hölzernen Absätzen.
Es fehlt die Ligatur, die Kapitel bleiben oft selbstreferentielle, auf die Vorgängerromane bezugnehmende Versatzstücke, die jeweils schon für sich Endstationen bilden ohne ineinander überzugreifen, ohne eine sie wirklich verbindende Sprache zu finden. Kaum von einem Abschnitt gefangen, wird man wieder hinauskatapultiert, muss überlesen, sich wieder einlesen, um sich vom nächsten Abschnitt dann endlich wieder eingefangen zu sehen.
Sollte das Buch nun deshalb ignoriert werden?
Nein - halbvoll bei Hilsenrath ist immer noch weit besser als so manches halbleere Trendy-Werk gehypter Jungspunde. Außerdem ist der Autor seit über 10 Jahren schwerkrank und musste 2004 den Verlust seiner geliebten Frau ertragen, so dass dieser Roman als Zeichen seines Überlebenswillens und seiner ungebrochenen Lust an der Kreativität schon wieder eine erstaunliche Leistung darstellt. Und als Zugpferd für das Erscheinen der Gesammelten Werke von Edgar Hilsenrath, in dem an- bzw. ausklingt, womit der Autor doppelt so umfangreiche Romane brillant und durchgängig überzeugend mit Tod und Leben zu füllen vermochte, ist er allemal gerechtfertigt. Und wer alles andere bereits kennt, bleibt immer noch neugierig auf die noch nicht erschienenen Erzählungen.
Weitere Besprechungen zu Edgar Hilsenrath sowie Gesamtliste der Werkausgabe siehe:
Büchernachlese-Extra: Edgar Hilsenrath
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