buechernachlese.de
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"Doch auf ihre Fragen bekamen meine Kinder nirgends anders Antwort,
höchstens von solchen, die es selbst nicht mehr erlebt haben. Da erkannte
ich, daß ich mich, wenn ich weiterhin schwiege, aufs neue schuldig
machen würde. Deshalb will ich reden ..."
Hätten mehr Menschen bei uns den befreienden Mut von Renate Finkh,
einer ehemaligen Nationalsozialistin gehabt, wäre sein Buch überflüssig
gewesen und nie geschrieben worden, aber ...
"Die Bundesrepublik Deutschland hat einen Januskopf, ein Doppelantlitz,
hat ihn immer gehabt, von Anfang an."
Und hinter dem einen Antlitz verbirgt sich ein Gehirn, in das auch
mit der beredtesten Stimme keine Unordnung zu bringen ist. Das hat für
jede Anklage ein Gegenbeispiel und für jede Aufforderung zur Verantwortung
der eigenen Geschichte einen dummen Spruch aus leichtsinnig plappernden
Mund parat, von wegen 'Gnade der späten Geburt' etcetera ...
Das Verheerende am Konservatismus ist ja das 'Bewahrende' seines Charakters,
da es eben nicht auf die 'wahren Werte des Lebens', sondern sein stures
Un-Denken zu beziehen ist.
Schlimmer: Die Luft für diesen Saurier ist noch immer nicht dünn
genug, als daß er sich endgültig zur letzten Ruhe legen könnte.
Sein Schoß ist nach wie vor fruchtbar, davon zeugen Neo-Nazis im
Besonderen, Ausländerfeindlichkeit und minderwertigkeitskomplexgeschüttelter
Größenwahn im Allgemeinen.
Ralph Giordano, Jahrgang 1923, schreibt auf, was unseren Eltern nicht
aus der Nase zu ziehen ist. Dazu begibt er sich aber nicht auf das hohe
Roß der Unfehlbarkeit, sondern gesteht gleich zu Anfang, daß
auch er propagandistischer Verführung auf den Leim gegangen ist -
nicht der von Göbbels, wohl aber der von Stalin, und es dauerte elf
Jahre bis er die KPD wieder verließ: "aus denselben Gründen,
aus denen ich mich ihr angschlossen hatte: um meinen Teil dazu beizutragen,
die Erde für die Menschheit bewohnbarer zu machen ..." Von dieser
Warte aus beschreibt er als Grundlage die GESCHICHTE DES VERLUSTES DER
HUMANEN ORIENTIERUNG, die den Konservatismus im Wechselspiel von Täter
und Opfer seit dem 19.Jhd vorstellt. Dieses Wechselspiel ermöglichte
auch in der Nachkriegszeit DEN GROSSEN FRIEDEN MIT DEN TÄTERN. Der
Anteil alter Nazis im ersten Bundestag bis hin zu höchsten richterlichen
Ämtern im Nachkriegsdeutschland erklärt sich eben nicht nur aus
der Kumpanei der Mächtigen, sondern wiederum aus dem Fehlen eines
massenhaften Aufschreis gegen diese Mißstände. Man wollte endlich
seine Ruhe haben, und wenn die 'da oben' so harmlos miteinander umgehen,
dann bin ich 'da unten' ja noch viel weniger verantwortlich zu machen.
Giordano aber holt einige schon vergessene Nachrichten aus dem Dunkel hervor
und setzt sie in Beziehung zu einer wahrhaft einzigartigen Verflechtung.
Als eines der jüngsten Beispiele dient die Berechtigung der 'Schadensausgleichrente'
für die Witwe Freislers: "Es könne ebenso wahrscheinlich sein,
daß Freisler in seinem erlernten oder einem anderen Beruf weitergearbeitet
hätte, zumal da eine Amnestie oder ein zeitlich begrenztes Berufverbot
ebenso in Betracht zu ziehen sind." (Zitat des damaligen CSU-Sozialministers Fritz Pirkl)
Neben der unsäglichen Gesinnung die hinter solchen Sätzen
steht, mutmaßt Giordano sehr plausibel, daß der Zynismus darin
auch noch recht behalten würde, d.h. der Massenmörder in Richterrobe
wäre, wenn er einen Luftangriff von 1945 und (evtl. durch Flucht)
die Nürnberger-NS-Prozesse überlebt hätte, nicht nur von
der lauen Gerichtsbarkeit ab 1953 verschont, sondern auch wieder zu Amt
und Würden gekommen.
Für einige wird auch die Stellung der Wehrmacht des III.Reiches
zu der 'Judenfrage' neu zu überdenken sein. Giordano kann sehr deutlich
nachweisen, daß die Wehrmacht in hohem Maße Anteil an der versuchten
Ausrottung einer ganzen Volks- und Glaubensgemeinschaft hatte.
Bei einem anderen Kapitel mag die Überschrift als Hinweis reichen:
FJS UND DIE ZWANGSDEMOKRATEN/ÜBER DIE VERBLIEBENE SEHNSUCHT NACH DEM
STARKEN MANN ...
Ob DER PERVERSE ANTIKOMMUNISMUS bei uns oder DER VERORDNETE ANTIFASCHISMUS
in der DDR, von der angeblich großzügigen CHARTA DER DEUTSCHEN
HEIMATVERTRIEBENEN bis hin zu den Beispielen des Versuches, einen Schlußstrich
zu ziehen (s.u.a. den geplanten Bau eines deutschen historischen Museums
in West-Berlin) trennt Giordano die engen Maschen praktizierter Verdrängung
auf und legt sie frei.
Hervorzuheben ist auch das Kapitel GEGENRADIKALISMUS PLUS TERRORISMUS,
deren Summe er als Hauptgefahr der Demokratie benennt:
"Die bundesdeutsche Variante des internationalen Terrorismus nun
hat einen Gegenradikalismus beflügelt, der lange auf solch glänzenden
Vorwand gelauert hat, seine Ziele erfolgreicher als bisher durchzusetzen:
Mehr Staat, mehr Polizei, rigorosere Gesetze, Abbau der demokratischen
Rechte und Freiheiten, ein Kaima geistiger Reglementierung, Diskriminierung
von Intellektuellen - im ganzen Reaktionen, die haargenau den Erwartungen
des Terrorismus entsprechen, nämlich die andere Hälfte zur Zerstörung
des Rechtsstaates beizutragen.
Keine Mißverständnisse - der Gegenradikalismus ist nicht
das Produkt, ist kein Geschöpf des Terrorismus, sondern die zeitgenössische
Spielart einer konservativen Kraft, die aus der Tiefe der deutschen Reichsgeschichte
bis in unsere Gegenwart hinein wirkt."
Dieses Sachbuch ist spannender als ein Gruselroman, bei dem sicherlich
nicht die flüssige Schreibe Giordanos für das z.T. stockende
Lesen verantwortlich ist. Offenbar sauber recherchiert, ergänzt durch
eigene Erfahrungen, korrespondieren seine Ergebnisse u.a. mit Aussagen
des Psychologen-Ehepaares Mitscherlich.
Jede/r vom Leben Lernende kann daran seinen/ihren Rücken stärken,
um dem anderen Antlitz des Januskopfes zu mehr Gesicht zu verhelfen - wir
sind immer noch zu wenig!
Weitere Besprechungen zu Werken von Ralph Giordano siehe:
Ralph Giordano: Die zweite Schuld (1987)
Ralph Giordano: Ostpreussen ade (1994)