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Immer dieses Gemeckere. Christian soll mit dem Rauchen aufhören,
Hausaufgaben machen und seine Dreckwäsche wegräumen. Was geht
es die Mutter an, ob und wieviel er mit 13 Jahren raucht? Die Dreckwäsche
ist doch nur ein Vorwand für sie, um in seinem Zimmer rumzustöbern.
Und das blöde Lernen für die "Scheißschule"? Sowieso
der reine Schwachsinn! Für seinen Berufswunsch 'Pilot' würde
der Hauptschulabschluß nicht reichen. Und LKW-Fahrer wie sein Vater
will Christian nicht werden. Der ist nur am Wochenende da, und dann hört
das Streiten gar nicht mehr auf.
Als Christian wie immer nach so einem Krach am Bahnhof steht, ergibt
sich eins aus dem anderen. Er lernt einen Mann aus Dortmund kennen. In
so einer Großstadt war Christian noch nie, und der Mann fragt ihn,
ob er mitwill. Nun würde er wieder nicht rechtzeitig zum Abendbrot
zu Hause zu sein und am nächsten Tag wieder ohne Hausaufgaben dastehen.
Christian wird zum "Straßenkid" und landet am Ende in Berlin.
Da hat er sich dann schon ein Jahr lang nicht mehr bei seinen Eltern gemeldet.
Der Autor Uwe Britten hatte zu diesem Thema bereits 1995 eine Reportage
verfaßt. Er lebte sechs Wochen auf der Straße und kam so in
engen Kontakt mit Berlins Straßenkindern. Der scheinbar banale Fluchtauslöser
Christians korrespondiert denn auch mit denen anderer Kinder. Vom völligen
Verlassensein bishin zum Kindesmißbrauch reicht das Spektrum. Da
aber keiner wirklich über seine Probleme reden will, macht das untereinander
keinen Unterschied. Man hat einen Überlebenskodex, der gewisse Zweckbündnisse
erlaubt, aber ansonsten muß jeder selbst sehen, wie er durchkommt.
Alkohol und andere Drogen werden da schnell zu einem notverdrängenden
Ersatz, der neue Nöte schafft. Britten schildert sehr anschaulich
von der alltäglichen Unsicherheit, sich genügend Essen und Trinken
und einen ungestörten, im Winter möglichst warmen Schlafplatz
zu besorgen. Wegen Verletzungen zum Arzt oder ins Krankenhaus zu gehen,
kommt nicht in Frage: Es würden ja Name und Adresse verlangt. Dazwischen
blitzt aber auch immer wieder eine gewisse Sympathie für diese Art
zu leben auf. Frei wie ein Vogel, vogelfrei vermögen sich diese Kinder
auf das Allernötigste zu beschränken und stehen damit in einem
eklatanten Widerspruch zur reinen Konsumgesellschaft. Sie entwickeln Überlebensstrategien,
die zuweilen kriminell, aber auch von anarchischer Kreativität sind.
Und ihr distanziertes Aufeinanderzugehen läßt Raum für
gegenseitigen Respekt und Zärtlichkeit. Dennoch wird sich auch der
faszinierte jugendliche Leser fragen, ob sich so ein Leben im Falle Christians
lohnt. Der Überlebenskampf auf der Straße ist kaum weniger zwanghaft
wie der Gang zur Schule.
Die in der Geschichte erwähnten Anlaufstellen für Straßenkids,
wo unaufdringlich gesprächsbereite Sozialarbeiter eben nicht nur eine
Dusche und belegte Brötchen anbieten, haken sich mit ihren Auswegmöglichkeiten
fest. Das Ende ist offen.
Uwe Britten hat hier bravourös eine Gratwanderung bewältigt
und ein Stück beinharter Realität in eine ansprechende Geschichte
verpackt, die Spuren legt - auch für Erwachsene.
Weitere Besprechungen zu Werken von Uwe Britten siehe:
Uwe Britten: Straßenkid (1997)
Uwe Britten: Ab in den Knast (1999)