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Textenetz | Kommentar: ABGENABELT - Eine LiteraChronik deutscher Länder Kommentar bzw. Vorwort einer von Ulrich Karger redaktionell mitverantworteten ÖLF-Nummer, für die u.a. auch Beiträge von Franz Josef Degenhardt, Lutz Rathenow, F. W. Matthies, Stephan Krawczyk, Freya Klier und Lilly Segal gewonnen werden konnten. (Darunter die erste Version dieses Vorwortes, die vor den Novembertagen 1989 geplant war.) Erstveröffentlichung: Österreichisches Literaturforum 3 / 1990 |
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"Einigkeit und Recht und Freiheit ..." hebt die bundesdeutsche Hymne an - sie sollte nie ein eigenlobstinkendes Lied der zuerst besungenen kleinen und kleinsten deutschen Ländereien sein, aber vermutlich liegt das Verführbare einer (National-)Hymne in der Liedform an sich. Berlin, im August 1990 |
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ABGENABELT - Entfernte Verwandte in/aus der DDR "Einigkeit und Recht und Freiheit ..." fängt die bundesdeutsche Hymne an, die kein Loblied auf das Land, sondern allmitternächtlich abgeschaltete Vorstellung von Utopia sein könnte. Einig und nicht vereinigt heißt es, aber einig worin - das ist die Frage. Die Drittelländer des ehemals deutschsprachigen "Großdeutschen Reiches" -BRD, DDR und Österreich (in alphabetischer Reihenfolge) haben sehr unterschiedliche Lösungsmodelle für die gegenwärtige Zukunft seit der Nachkriegszeit gefunden. Globke und Wirtschaftswunder, neutrales Opfer ... und die DDR? Nicht nur in West-Berlin wurde von kioskumsäumten Plattformen aus mit gemütlichem Gruseln über die Mauer hinweg zu den armen Brüdern und Schwestern nach drüben gegeifert. Nach '61 war für die beiden anderen Drittel klar: Das sind die eigentlichen Verlierer, (nur gut, daß wir es nicht sind!). Eine Polemik stachelte zur nächsten an, und keine ist es wert, an dieser Stelle wiederholt zu werden. Zum 40igsten Jahrestag, zu Honeckers Abgegangen-werden feierte der sensationslüsterne KalteKriegsJargon erschreckend borniert-fröhliche Urständ, um nur ja nicht die zwei Dinge im Dreiminuten-Takt aus Versehen mitzuwiederholen, die statt Schubladenbewältigung das Nachdenken auf breiter Basis befördert hätten. Das Augenfällige, daß die Menschen, die vielen Menschen in der DDR mit ihrer insgesamt intensiveren Belesenheit tatsächlich die Chance zu einer real existierenden Volks-Demo-Kratie (einmal reicht nicht - nur doppelt ist diese Begriffskette eindeutig!) haben. Und trotz aller Scheinheiligkeit: Wir haben tatsächlich einen gemeinsamen geschichtlichen Hintergrund, d.h. die Palette der Deutschen reicht von Bismark bis Hitler, von Marx bis Liebknecht bis Honecker ... Auf westlicher Seite ist es also der verdrängte Nazi in und der bekämpfte Kommunist neben uns, gegen die nach wie vor Zeichen zur Vermeidung des bösen Blicks geschlagen werden. ABGENABELT zu sein, heißt nicht nur: Losgelöst. Der freie Fall endet zumeist mit einem heftigen Aufschlag. ABGENABELT zu sein, heißt auch: Sich eigenständig, selbstverantwortlich in Beziehung setzen zu können, und natürlich auch: Sich zu seiner Herkunft in Beziehung setzen zu können. Es werden hier also keine frischgeflüchteten AutorInnen vorgeführt - auch weil es die vermutlich gar nicht gibt! - sondern solche, die in den hoffnungsloseren Jahren zuvor ausgewiesen, ausgesiedelt oder geflüchtet wurden und schon bereit und in der Lage waren, eine erste Zwischenbillanz zu ziehen. Gemeinsame Geschichte, gemeinsame Geschichten, Horizontannäherung durch Hören und Gehörtwerden ... Wir beiden anderen Drittel kommen auch zu Wort, wobei sich uns eine arrogante Kommentierhaltung von selbst verbietet bzw. lediglich der Realsatire vorbehalten sein kann, da es nicht über andere, sondern nur mit uns allen geht. Tatsächlich sind wir doch alle mindestens einmal abgenabelt worden, oder nicht? Mit freundlichen Grüßen aus dem seltsamen Städtchen, mit der 200 km langen Nabelschnur. |
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ulrich-karger.de/textenetz/ © Ulrich Karger seit 2002
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