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Textenetz | Kommentar: ABGENABELT - Eine LiteraChronik deutscher Länder


Kommentar bzw. Vorwort einer von Ulrich Karger redaktionell mitverantworteten ÖLF-Nummer, für die u.a. auch Beiträge von Franz Josef Degenhardt, Lutz Rathenow, F. W. Matthies, Stephan Krawczyk, Freya Klier und Lilly Segal gewonnen werden konnten. (Darunter die erste Version dieses Vorwortes, die vor den Novembertagen 1989 geplant war.)

Erstveröffentlichung: Österreichisches Literaturforum 3 / 1990



"Einigkeit und Recht und Freiheit ..." hebt die bundesdeutsche Hymne an - sie sollte nie ein eigenlobstinkendes Lied der zuerst besungenen kleinen und kleinsten deutschen Ländereien sein, aber vermutlich liegt das Verführbare einer (National-)Hymne in der Liedform an sich.
Die biblischen Lobpsalmen danken und verweisen in all ihrem Tun und Wollen auf Gott, was eigentlich die entgegengesetzte Blickrichtung einer nabelschauenden Betrachtung bedingt und trotzdem das chauvinistische Auserwähltseinwollen eines Volkes nicht verhinderte - allerdings war es dann menschlicher und nicht göttlicher Wille, der dieses Volk dafür über Jahrhunderte grausam "strafte".
Die Deutschen schreiben mal wieder Geschichte, ein "historischer Augenblick" übertrifft den andern, Zwinkern und Augenreiben ist als letzter Schrei der Trimm-dich-fit-Bewegung angesagt.
Wenn dieses Heft wie geplant im November 1990 erscheint, ist es gerade ein Jahr her, daß den Trabbis auf die Dächer getrommelt wurde und Hammer-und-Meißel-Spechte Mauersouveniers abklopften. Die dank vorzüglicher Logistik schnell auf den Weihnachtsmarkt geworfenen Rührvideos mit klassischer Musikuntermalung verzeichneten Rekordumsätze - "Schau Enkelkind, so war das damals ..." - dann war das einig Volk satt an Nachrichten aus und über Deutschland (dabei wurde eh schon gekürzt, wenn z.B. bestimmte Nachrichten über Polizeiaktionen gegen Anti-REP-Demonstranten zugunsten der neuen deutschen Lage unter den Tisch gefallen sind). Der Alltag in überfüllten Kaufhäusern machte bald aus Brüdern, Schwestern und Polen marktwirtschaftliche Konkurrenten, von denen es sich abzusetzen galt - an Tüten und Kartons sollt ihr sie erkennen ...
Die Einladung, an diesem Heft mitzuwirken, ging schon Monate vor der WENDE heraus, als noch ein zweiter Blut-Platz des himmlischen Friedens auf dem Alexanderplatz zu befürchten war. Damals war uns Westlern die DDR so fremd und fern, und es sollte des allzugemeinsamen Hintergrundes gedacht und auf die allzuhintergründigen Ähnlichkeiten aufmerksam gemacht werden: Den verdrängten Nazi in und den bekämpften Komunisten neben uns hat ja erst Wirtschaftswunder und/oder Opferrolle möglich gemacht. Daß in der DDR etwas schief lief, war demnach nicht die Frage, auch nicht, ob es verwerflicher war, sondern: wie werden die damit fertig, wie erleben die das eigentlich - und wie erleben sie uns?
Nun, die "entfernten Verwandten" sind uns näher gekommen, die (westlichen) Geschäftsleute machen bereits gute Geschäfte, die Arbeitslosigkeit der "Ostler" wird durch das Raten-Auto oder/und Video versüßt, bei vorgezogener, endgültiger Einigkeit wird Kohl bereits Kanzler aller Deutschen sein, die ihn dann auch alle im Oktober oder November oder Dezember wiedergewählt haben oder wiederwählen werden - oder auch nicht?!
Zuvor gelobte SchriftstellerInnen wie Stefan Heym und Christa Wolf stehen nun im Mittelpunkt heißer Diskussionen, weil es sich schon so gut vergessen hat, als bei uns allen der Zug des effizienten Widerstandes nach 1933 bzw. nach 1939 abgefahren war. Es bleibt der Makel der Weimarer Republik, nur mit wenigen Stimmen (z.B. Tucholsky) gegen den unverändert reaktionären, auf Obrigkeit ausgerichteten Sinn wirkungslos angegangen zu sein. Aber wann - bitte schön - gab es einen ähnlichen Vorlauf für die DDR, die von der Diktatur Hitlers übergangslos unter die Obhut Stalins gelangte? Den Sozialismus - auch heute noch - als Utopia zu rechtfertigen, war und ist mindestens genauso sinnvoll wie bei unserer marktwirtschaftlichen Ordnung und Gnadenlosigkeit gegenüber "Dritter Welt" und Umwelt und, und, und Sonntagsreden zu halten.
Das bißchen Luxus für Heym und Wolf war und sei ihnen vergönnt - es hätte ihnen hier wie dort zugestanden, und es stand sicher in keinem Verhältnis zu dem Luxus, der sie nun anprangernden Redakteure der sogenannten großen westdeutschen Zeitungen - man müßte mal recherchieren, ab wann die z.B. den Begriff "Umwelt" nicht als Beleidigung sondern als Problem erfaßt und aufgegriffen haben ...
So geht das halt, wenn man sich von der Nachkriegszeit endlich abnabeln will, und dies nur für wenige auch den Übergang zu mündiger Reife meint.
Die "Rush-hour" in der deutschen Tagespolitik läßt keine Zwischenbillanzen zu, deshalb wählten wir die Form einer LiteraChronik - die Anordung der Texte spiegelt das Lebensgefühl der Eingeschlossenen und schließlich von alter SED-Herrschaft und alten Feindbildern Befreiten, bereichert um den "freien" Blick auf neue Befürchtungen und einem offenzuhaltenden Ende. Deshalb auch der freie Wechsel von Lyrik und Prosa ohne Kapitel-Überschriften, die ja doch nur scheinbar eingrenzen würden, was sich nicht als Rück- oder Vorrausschau eingrenzen läßt. Nur soviel zur Orientierung: Die ersten Texte sind vor der Wende und die letzten nach der Wende verfaßt worden - vielleicht ergibt sich ja mal das Interesse, diese Chronik fortzusetzen.
Knotenpunkt der meisten AutorInnen war Ost- und West-Berlin, was nur unwesentlich mit meinem Wohnsitz hier zu tun hatte, sondern vielmehr mit der geo-politischen Lage dieser (noch? ehemals?) geteilten Stadt, die gleichsam ein Focus deutsch-deutscher Befindlichkeit war und ist.
Anhand der im Anhang nachlesbaren Bio/Bibliographien der AutorInnen werden Sie feststellen können, daß Sie in diesem Heft mit der literarischen Mittel- bis Oberschicht konfrontiert werden - mich selbst nehme ich natürlich von dieser Wertung aus! Wenn Ihnen etwas quer geht, dann hat das also nicht unbedingt mit der literarischen Qualität, als vielmehr mit den berechtigten Kriterien Ihres eigenen Geschmacks zu tun. Andere sind halt einfach anders - aber das soll ja auch den Reiz dieses Heftes ausmachen: Einander kennenlernen und Geschichte(n) pur erfahren.
Besonders ermutigen möchte ich vor allem die österreichischen Leser zu dem Prosa-Text von Ines Eck, der die schwierige Situation einer jungen Frau von "damals" in formal nicht leichter, aber nach dem ersten Einlesen sehr gut nachvollziehbarer Sprache vermittelt. Den zum Zeitpunkt der Druckerlaubnis (Dez.89) noch unveröffentlichten Text von Franz Josef Degenhardt brauche ich nicht besonders hervorzuheben - aber bedanken möchte ich mich für dessen spontane Zusendung.
Bedanken möchte ich mich auch bei dem Initiator der Gruppe Westend Michael Meinicke. Im gleichnamigen, ehemaligen Westberliner S-Bahnhof versammelt er seit Dezember 1989 einmal im Monat KünstlerInnen aller Art (u.a. Maler, Grafiker, Theater-und Fernsehregisseure). Viele der Texte von DDR-AutorInnen sind dank der bereits eng gewordenen Kontakte innerhalb dieses Kreises an mich weitergegeben worden.

Berlin, im August 1990

Ulrich Karger


ABGENABELT - Entfernte Verwandte in/aus der DDR
Eine literarische Herbergssuche

(1. Version des Vorwortes, das noch im Sommer, also vor 11.89 für das Konzept besagter Nummer des ÖLF geplant war ...)


"Einigkeit und Recht und Freiheit ..." fängt die bundesdeutsche Hymne an, die kein Loblied auf das Land, sondern allmitternächtlich abgeschaltete Vorstellung von Utopia sein könnte.
Einig und nicht vereinigt heißt es, aber einig worin - das ist die Frage.
Die Drittelländer des ehemals deutschsprachigen "Großdeutschen Reiches" -BRD, DDR und Österreich (in alphabetischer Reihenfolge) haben sehr unterschiedliche Lösungsmodelle für die gegenwärtige Zukunft seit der Nachkriegszeit gefunden. Globke und Wirtschaftswunder, neutrales Opfer ... und die DDR?
Nicht nur in West-Berlin wurde von kioskumsäumten Plattformen aus mit gemütlichem Gruseln über die Mauer hinweg zu den armen Brüdern und Schwestern nach drüben gegeifert. Nach '61 war für die beiden anderen Drittel klar: Das sind die eigentlichen Verlierer, (nur gut, daß wir es nicht sind!). Eine Polemik stachelte zur nächsten an, und keine ist es wert, an dieser Stelle wiederholt zu werden.
Zum 40igsten Jahrestag, zu Honeckers Abgegangen-werden feierte der sensationslüsterne KalteKriegsJargon erschreckend borniert-fröhliche Urständ, um nur ja nicht die zwei Dinge im Dreiminuten-Takt aus Versehen mitzuwiederholen, die statt Schubladenbewältigung das Nachdenken auf breiter Basis befördert hätten.
Das Augenfällige, daß die Menschen, die vielen Menschen in der DDR mit ihrer insgesamt intensiveren Belesenheit tatsächlich die Chance zu einer real existierenden Volks-Demo-Kratie (einmal reicht nicht - nur doppelt ist diese Begriffskette eindeutig!) haben.
Und trotz aller Scheinheiligkeit: Wir haben tatsächlich einen gemeinsamen geschichtlichen Hintergrund, d.h. die Palette der Deutschen reicht von Bismark bis Hitler, von Marx bis Liebknecht bis Honecker ... Auf westlicher Seite ist es also der verdrängte Nazi in und der bekämpfte Kommunist neben uns, gegen die nach wie vor Zeichen zur Vermeidung des bösen Blicks geschlagen werden.
ABGENABELT zu sein, heißt nicht nur: Losgelöst. Der freie Fall endet zumeist mit einem heftigen Aufschlag. ABGENABELT zu sein, heißt auch: Sich eigenständig, selbstverantwortlich in Beziehung setzen zu können, und natürlich auch: Sich zu seiner Herkunft in Beziehung setzen zu können.
Es werden hier also keine frischgeflüchteten AutorInnen vorgeführt - auch weil es die vermutlich gar nicht gibt! - sondern solche, die in den hoffnungsloseren Jahren zuvor ausgewiesen, ausgesiedelt oder geflüchtet wurden und schon bereit und in der Lage waren, eine erste Zwischenbillanz zu ziehen. Gemeinsame Geschichte, gemeinsame Geschichten, Horizontannäherung durch Hören und Gehörtwerden ...
Wir beiden anderen Drittel kommen auch zu Wort, wobei sich uns eine arrogante Kommentierhaltung von selbst verbietet bzw. lediglich der Realsatire vorbehalten sein kann, da es nicht über andere, sondern nur mit uns allen geht. Tatsächlich sind wir doch alle mindestens einmal abgenabelt worden, oder nicht?

Mit freundlichen Grüßen aus dem seltsamen Städtchen, mit der 200 km langen Nabelschnur.

Ulrich Karger




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