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Textenetz | Kommentar: Nachgeholtes Eingeständnis


Kommentar von Ulrich Karger auf die Reaktionen zu Günter Grass und seinem Eingeständnis, als 17-jähriger Angehöriger der Waffen-SS gewesen zu sein.

Erstveröffentlichung: Textenetz 14.08.2006

Alle in der Büchernachlese besprochenen Titel von und zu Günter Grass siehe:
  • Buechernachlese-Extra: Günter Grass



  • Ein Berliner Friedhof, die Schmalseite begrenzt von einer Fußballfeld großen Grasfläche, an die sich ein zum Gedenken erhaltenes Restmauersegmentkarree anschließt, dahinter wiederum die für ihre tragischen Fluchtszenen berüchtigte Bernauer Straße. Die gepflegten Ehrengräber der Komponisten Gustav Albert Lortzing (1801-1851) und Walter Kollo (1878-1940) heben sich von zahllosen anderen Ruhestätten ab, insbesondere jenen, deren Grabsteine mit leuchtend gelben oder roten Warnaufklebern versehen sind. Die Warnungen richten sich im prägnanten Behördendeutsch an die Angehörigen der Toten und bemängeln, dass die Steine nur noch lose mit ihren Sockeln verbunden sind, somit kippen können und eine Unfallgefahr darstellen. Der fortgeschrittene Verfall und das Alter der meisten derart gekennzeichneten Steine deuten jedoch eher auf ihre baldige Entsorgung hin.

    Viele Reaktionen auf das Eingeständnis des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass, in den letzten Kriegsmonaten als 17-jähriger zur Waffen-SS einberufen worden zu sein. Alle wundern sich und kritisieren den späten Zeitpunkt dieses Eingeständnisses. Für einige besonders erzürnte Kritiker steht nun gleich die ganze Integrität des Autors in Frage - zwar meinen auch sie unisono, Grassens schriftstellerisches (und wohl auch bildnerisches) Werk wäre davon nicht berührt, aber all seine in der Vergangenheit geäußerten politischen Einlassungen seien wegen dieses Eingeständnisses fürderhin null und nichtig. So sehr eine solch geballt zur Schau getragene Enttäuschung immer wieder ein Publikum suchen und auch immer wieder finden wird, bleibt sie doch auch immer wieder lächerlich, weil verlogen und bigott.

    Was Günter Grass angetrieben hat, mit seiner Enthüllung das Ende seines achten Lebensjahrzehnts abzuwarten, ob ins Abseits der Verdrängung geratene Scham oder medienwirksames Kalkül für seine im September erscheinende Autobiographie oder einem Amalgam aus beiden und einer Vielzahl weiteren Gründen innerhalb dieses sich auftuenden Spektrums menschlicher und allzumenschlicher Beweggründe - das wird wohl keiner vollends ergründen, auch Günter Grass nicht, wie er in seinem Buch Beim Häuten der Zwiebel selbst einräumt.

    Doch wer will hier richten über die Qualität eines solchen Eingeständnisses?
    Wer mit Eltern oder Großeltern groß geworden ist, die sich allesamt zumeist äußerst schwer taten, in Nazizeiten überhaupt von irgendetwas gewußt zu haben, wird sich hüten, dieses Geständnis vorschnell abzutun. Auch und gerade, weil es so spät kam. Denn es ist eine Binsenweisheit, dass es je später umso schwerer fällt, etwas zu bekennen, wofür man sich schämt. Die Schwere wächst proportional gleich einem kleinen Schneeball, der mit jeder Drehung immer mehr Schnee aufnimmt und am Ende als unstemmbares Gewicht nicht mehr von der Stelle zu bewegen ist. Nicht umsonst sind es Zeitzeugen wie Ralph Giordano, die spontan das größte Verständnis für Grass zeigten. Jüngeren fällt hierbei auf Logik beharrendes Unverständnis leichter ...

    Dass Grass als Jugendlicher ein glühender "Heldenverehrer" der Nazis war und sich bereits 15-jährig freiwillig an die Front für U-Boot-Einsätze gemeldet hatte, war längst bekannt - das etwas spätere sich Einverleibenlassen durch die Waffen-SS also nur noch eine nuancierte Steigerung einer Folge jugendlicher Idiotie, die noch dazu ohne weitere ihm vorzuhaltende Täterfolgen blieb.

    Wieso sollten also z.B. seine wiederholten Warnungen vor der Verführbarkeit brauner Schöße keine Gültigkeit mehr haben, wenn doch in der Hauptsache seine selbst erlebte Verführbarkeit schon immer Teil seiner mahnenden Argumente war?

    So erhält Günter Grass von den erregten Glashaussitzern aus der zweiten Reihe in Wahrheit nicht die Rechnung für dieses erweiterte Eingeständnis präsentiert, sondern für etwas ganz anderes, wiederum sehr menschlich-allzumenschliches.
    Jedem, der seine Kunst nicht nur für sich im Geheimen verwirklichen will, ist auch mehr oder minder Eitelkeit zueigen. Neben vielen von anderen bezeugten Eigenheiten, von denen seine Großzügigkeit und seine Kochkünste nicht als letzte zu nennen wären, wurde Grassens Eitelkeit immer dann wieder virulent, wenn er sich hierzulande nicht genügend in der Hauptrolle eines Großschriftstellers gewürdigt sah. Das letzte Wort auch in dieser Sache haben zu wollen, soll ihm deshalb nun nicht gegönnt werden.

    O heiliges Mittelmaß, weit entfernt von jedem Humor, Heil und Fluch bei anderen suchend und Selbstironie noch nicht einmal buchstabieren wollend.

    Lächerlich, verlogen und bigott bleibt die Vorstellung, irgendein Mensch könnte im Laufe vieler Jahrzehnte altern, ohne sich nicht mindestens einer vergleichbaren Verfehlung schuldig zu machen. Wer sucht und beckmesserische Maßstäbe anlegt, würde auch bei Mutter Theresa und Mahatma Ghandi etwas zu bemäkeln finden, das im Widerspruch zu deren allseits bewunderten Lebensleistung stünde. Wieso also als Leser und Zuhörer von Günter Grass einer solch heftige Erregung auslösenden Täuschung unterliegen? Noch dazu, wo ich als Leser an jedem gelesenen Buch zum nicht geringen Teil selbst beteiligt bin? Wer von Günter Grass enttäuscht ist, ist vor allem von sich selbst enttäuscht. Eine Privatangelegenheit, wie ich meine, und wen interessiert die schon?

    Und das bisschen Eitelkeit, dem ebenfalls ein wenig mehr Übersichselberlachen gut täte, ist doch ein Nichts gegenüber dem Werk und den über Jahrzehnten so notwendigen wie wohltuenden Provokationen eines Schriftstellers, der im Ausland schon lange vor der Fussball-WM eines der wenigen Aushängeschilder für den besseren Deutschen war.

    Nach der Ereignis schaffenden Philosophie der Yellow Press ist es nur eine Frage der Zeit, bezeugte oder auch nur selbst bezeugte Heilige umso tiefer fallen zu lassen, wenn die Nachrichtenlage oder ein vermeintlich gesunkener Bekanntheitsgrad es zu erfordern scheinen. Und wir lesen das und finden am Stellvertretertum der Heiligen ebenso seichte Ablenkung von weit relevanteren Themen wie im tiefen Fall ihrer Verteufelung. Mal sehen, inwieweit dieser Mechanismus nun auch in Danzig und Prag greifen wird.

    Sich dagegen verwahrloste, dem umgebenden Erdboden immer ähnlichere Gräber anzusehen, entzieht sich der Unterhaltsamkeit und erst recht der Ablenkung. Grabstätten, womöglich von jeher unbesucht und unbeweint, dem Vergessen aber in Wahrheit nur unbedeutend schneller anheim gefallen, als bislang noch gepflegte und künftige Ehrengräber.

    Ulrich Karger




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