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Die gleich auf den ersten Seiten präsentierte Ausgangslage ist ungeheuerlich: In ein verschneites italienisches Bergdorf kehrt ein zweispänniger Schlitten ohne Insassen und mit nur noch einem Pferd zurück. Als einige Dorfbewohner, darunter der Priester Don Ermete, sich auf die Suche machen, gelangen sie an einen Ort des Schreckens. Ein mit Eis überzogener Baum leuchtet in blutigem Rot, das offenbar von elf zerstückelten Leichen stammt. Das Grauen wird noch dadurch verstärkt, dass die Leichen, darunter auch Kinder, nicht nur auf unterschiedliche, sondern auch noch auf völlig "unmögliche" Weise, wie z.B. durch einen Haifischbiss zu Tode gekommen sind. Zudem ist zum gleichen Todeszeitpunkt der aufgefundenen Leichen an der Hand der später zur Klärung des Falls hinzugezogenen Psychiaterin Giowanna eine 15 Jahre alte Narbe ohne einleuchtenden Grund aufgebrochen …
Sandro Veronesi hat in "XY" einen sehr ambitionierten Roman verfasst, der aus den Erzählperspektiven von Don Ermete und Giowanna nicht etwa einer kriminalistischen Lösung dieser Todesfälle nachspürt, als sie vielmehr als Tableau für Grundsatzfragen nach Schuld und Sühne, Ratio und Religiosität, Gut und Böse vorgibt.
Doch spätestens nach 150 Seiten wird das Auf-der-Stelle-treten zur Plattitüde und der Leser soll ihm abgewinnen, was ihm nicht abzugewinnen ist. Dabei hätten die geheim gehaltenen und die Ergebnisse bewusst verfälschenden Untersuchungen der Staatsanwaltschaft wie auch das sich währenddessen immer mehr feindselig verkapselnde Dorf einem Stephen King alle Ehre machen können. Auch die Gegenüberstellung der hermetischen Sicht eines katholischen Priesters auf die einer sich selbstironisch und abgeklärt gebenden Psychiaterin ist durchaus reizvoll - schlägt zuweilen ja auch einige Funken. Doch "mitreißend" wird es erst wieder ab Seite 331 als X und Y (sic!) sprich Giowanna und Don Ermete in einen direkten Dialog treten, um ihrem jeweils eigenen Schuldempfinden Rechnung zu tragen.
Zusammengekürzt auf den halben Umfang, wäre das dadurch entstandene Weniger gewiss zu einem weit, weit Mehr geworden - am besten zu einer stringent gebauten Novelle.
So aber wirkt das Ganze nur artifiziell breitgetreten und paradoxerweise trotz aller berechtigten Anfragen an menschliche Individuen und Gemeinschaften ohne jeden Bezug zur Lebenswirklichkeit.