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KIERKEGAARD - verarmt, unverstanden und vielgehaßt
Kierkegaard - ein Name, den man zwar schon hin und wieder gehört
hat, weil sich auf ihn nicht nur theologisch gebildete ChristInnen, sondern
auch ein Existentialist wie Satre bezog, aber sonst ...
Harald von Mendelssohn,
Jahrgang 1911, lernte das Werk K.s in den Zeiten von Flucht und Emigration
schätzen - trotz einiger grundsätzlicher Vorbehalte. Nach seiner
Pensionierung fand v. Mendelssohn endlich die Zeit, seine Kritik und seinen
Respekt vor K.s Lebenswerk in eine nun vorgelegte Biographie einfließen
zu lassen. Ausgangspunkt bildet das "biedermeierliche" Leben Anfang
des 19. Jahrhunderts in Kopenhagen. Denn, so Mendelssohn, K.s Werke stehen
in einem sehr unmittelbaren Zusammenhang zu den Bürgern und dem Leben
in dieser Stadt, die er so gut wie nie verlassen hat. So ist das Buch in
zwei Abschnitte zu teilen: Die erste Hälfte malt anekdotenreich ein
Sittengemälde jener Zeit und stellt der Kindheit und Jugend K.s u.a.
die des berühmten Märchendichters Hans Christian Andersen gegenüber.
Während sich Andersen aus einer geheimnisvoll umwitterten ärmlichen
Kindheit in die vornehmen Salons hochkämpfte und dabei immer im rechten
Moment von prominenter Hand gefördert wurde, beschritt der aus wohlhabendem
Hause stammende K. den diametral entgegengesetzten Weg und starb als verarmter,
unverstandener und vielgehaßter Mann. Dies hatte nicht zuletzt eine
Ursache: "Zeit seines Lebens vermochte er nicht, sich dem überwältigenden
Einfluß seines Vaters zu entziehen ..."
Was diese über den
Tod des Vaters hinausreichende Haßliebe entfesselte, ist nur anhand
von Indizien und manchem verräterisch Nicht-Gesagten nachzuspüren,
läßt aber Schreckliches ahnen. Das zweite Geheimnis - Geheimnisse
waren offenkundig wesentliches Ingredienz jener Zeit - umgibt K.s unerfüllte
Liebe zu einer Frau, deren Verlobung er ohne Angaben von Gründen kurz
vor der Eheschließung löste, sich dabei aber emotional nie wirklich
von ihr losgesagt hatte, wie selbst die letzten Eintragungen in seinen
Tagebüchern beweisen. Dieses Geheimnis gründet zum einen auf
dem ersten, dürfte aber nach Mendelssohns plausibel ausgeführten
Vermutungen auch eine handfest medizinische Ursache gehabt haben. Danach
hätte K. seiner Verlobten das Zusammenleben mit einem Syphelitiker
erspart. Es machte also durchaus Sinn, im zweiten Abschnitt die zu K.s
Lebzeiten veröffentlichte Literatur den Tagebüchern gegenüberzustellen.
Aber auch darüberhinaus geht Mendelssohn in diesem Abschnitt sehr
kompetent auf die inhaltliche Seite von K.s Theologie und Philosophie ein.
So bewundert er zum einen K.s Komplexität, weist ihm aber auch manche
schlicht falsche Prämissensetzung und den gefährlichen Hang zum
Verabsolutieren nach. Völlig einig ist er sich dagegen mit K.s Gesellschaftskritik,
die er, ein Däne, für Dänemark als noch heute gültig
ansieht.
Harald von Mendelssohn gelang eine erstaunlich eingängige
Einführung, deren Verdienst vor allem darin liegt, einmal mehr Neugier
auf das Werk Kierkegaards zu provozieren.