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1942 ist Rafals Freiraum im Warschauer Ghetto bereits arg eingeschränkt, aber zum Glück darf er noch die Bibliothek besuchen. Sich dort für fünf Zloty einen Monat lang alle Bücher ausleihen zu können, findet er sehr günstig. Vor allem wenn er daran denkt, dass sein Großvater fünf Zloty für eine einzige Stunde Geigenunterricht verlangt. Allerdings kann sein Großvater schon bald gar keinen Geigenunterricht mehr erteilen und Rafal auch nicht mehr die Bibliothek besuchen, denn sie beide müssen nach einer Verkleinerung des Warschauer Ghettos umziehen.
Ein Buch ist Rafal aber noch geblieben: die "Zeitmaschine" von H. G. Wells. Dieser bereits 1895 erschienene Klassiker der Science-Fiction-Literatur lenkt ihn wunderbar ab, zugleich entdeckt er darin viele Parallelen zur ihn umgebenden Wirklichkeit. Sich in den darin beschriebenen Zeitreisenden zu versetzen, hilft dem Neunjährigen dann auch dabei, den Abschied von seinem Großvater zu ertragen und gemeinsam mit einer Fluchthelferin die Grenzen des Ghettos zu überwinden, um sich schließlich auch noch von ihr im Warschauer Zoo verabschieden zu müssen. Andere Kinder, die sich wie er im von Bomben zerstörten Zoo verstecken und zu überleben versuchen, helfen ihm - aber die Nazis sind ihnen allen längst auf der Spur …
Ausgezeichnet mit dem Astrid-Lindgren-Manuskriptpreis und von der polnischen IBBY-Sektion als Buch des Jahres ausgewählt, hat Marcin Szczyglielski mit "Flügel aus Papier" dem Holocaust eine neue Facette als Kinderbuch abgerungen, die in einigen Grundkonstellationen auf realen Lebensgeschichten von Überlebenden beruht. Aus der Ich-Erzählperspektive Rafals schildert er eine kindliche Sicht auf den allgegenwärtigen Schrecken. Dabei zeigt er, wie erstaunlich gut sich Kinder anzupassen und Einschränkungen hinzunehmen lernen, solange noch Vertrauenspersonen wie der Großvater an ihrer Seite sind. Und werden ihnen diese Vertrauenspersonen entzogen, können dank der kindlichen Phantasie auch Figuren aus einem Buch zumindest Brücken bauen, um eine bedrohliche Situation zu überwinden.
Zugleich erlaubt die Metapher als Zeitreisender dem Autor auch eine finale Volte, die dem nicht selten schrecklichen Ausgang einer solchen Geschichte ebenso Rechnung trägt wie ein für die angedachte Zielgruppe dann doch noch versöhnliches Ende. Denn tatsächlich haben einige wenige Kinder aus dem Ghetto fliehen können und gewitzte Strategien entwickelt, die ihr Überleben sicherten.
Einen gleich einfangend und bis zuletzt mitreißend, leistet dieses Buch somit eine altersgemäße Einführung zum Verständnis eines historisch in keiner Hinsicht leicht zu fassenden Zeitabschnitts. Zugleich ist es selbst ein Plädoyer auf die Lektüre guter Bücher, die phantasieanregend und damit grenzüberschreitend sind - auch wenn das leider keineswegs immer ein allumfassender Schutz gegen die Brutalität totalitärer Herrscher in Kriegszeiten ist. Aber sofern heutige Leser nach der Zeitreise mit diesem Buch als Erwachsene den friedensstiftenden Lösungen mehr abgewinnen als den scheinbar einfachen, die nur auf Beschränkung setzen, dann wäre schon viel gewonnen.