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All der Reichtum des Verlagshauses Chancel gründet auf einen einzigen
Roman. Nora Chancel hat das Buch noch nicht einmal gelesen. Nach Jahrzehnten
des Erfolgs wird die Urheberschaft dieses Werks in Frage gestellt. Nora
kommt nun nicht umhin, seiner Entstehungsgeschichte nachzuspüren -
vor allem weil Dick Dart das Geheimnis um jeden Preis lüften will.
Auf dem Polizeirevier wird Nora von ihm als Geisel genommen. Und Dick Dart,
der zum Serienkiller mutierte Sohn des Verlagsanwaltes, ermordet und seziert
Nora nur eines Mißverständnisses wegen nicht bei nächster
Gelegenheit. Dick Darts "Untersuchungen" haben jedoch Erfolg. Sie
decken die Abgründe jener Familie auf, in die Nora hineingeheiratet
hat.
Peter Straub ist dem Genre nach gewöhnlich ein Nachbar von Stephen
King und wurde für seine Horror- und Fantasywerke bereits des öfteren
mit entsprechenden Literaturpreisen ausgezeichnet. REISE IN DIE NACHT verzichtet
jedoch auf übersinnliche Effekte und bezieht seinen bis zum Ende spannungsgeladenen
"Thrill" aus zwar zugespitzten, aber durchaus realistischen Motiven.
Im Vordergrund stehen die taktisch genialen Winkelzüge des flüchtigen
Geiselnehmers sowie das Damoklesschwert, das derweil über der von
Vergewaltigung und Mord bedrohten Nora schwebt. Einige, relativ wenige
Abschnitte, die Dick Darts Neigungen schildern, gemahnen in ihrer blutrünstigen
Detailversessenheit an Anatomielektionen. Zartbesaitete Gemüter sollten
die notfalls einfach überlesen. Wirklich unter die Haut gehen sowieso
weit mehr die aberwitzigen Dialoge zwischen Dick und Nora. Das Pendeln
des Opfers zwischen Abwehr und "Stockholm-Syndrom" verleiht ihnen
eine atemberaubende Balance. Und was die in das Verlagshaus Chancel verwobenen
Familienabgründe angeht, hat Straub offenbar mit Gewinn nichts Geringerers
als Henrik Ibsens "Nora" und ihre Frauenrolle gegen den Strich gebürstet.
Das hat schon was, genauso wie der zutage geförderte Zynismus im Umgang
mit Autoren und ihren Werken.