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Für Dr. Anton Lichtenau, seines Zeichens Privatdozent für Philosophie an einer Hochschule in Berlin, durchdringen die Fragen nach der Wahrheit nicht nur seine Vorlesungen und etwaige Karriereschritte, sondern nicht zuletzt auch sein Privatleben. Antwortgeber auf diese Fragen ist nicht zuletzt Lichtenaus gern zitierter Philosoph Hans Vaihinger (1852-1933), in dessen Hauptwerk "Die Philosophie des Als Ob" die Wahrheit lediglich als "der zweckmäßigste Irrtum" abgehandelt wird.
Dies zu Ende zu denken und auch danach handeln zu wollen, bringt (und brachte) Lichtenau immer wieder in Nöte aber auch zu mehr als nur ihn erleichternde Lösungen - und am Ende, ja, das Ende findet sich so oder so …
Jens Sparschuh dürfte nach wie vor zu den besten, mehrfach ausgezeichneten "gesamtdeutschen" Erzählern seiner Generation zählen. Einmal mehr sieht er sich in virtuoser Sprachregelung einer lakonischen Innenschau verpflichtet, aus der sich auch eine ihm gemäße "Heimatkunde" ablesen lässt. Und mit seinem neuen Roman "Nicht wirklich" legt er zugleich ein Zeugnis ab, in dem Realität und Fiktionales auch als offengelegtes Thema ineinander verschwimmen.
Erwägungen unter dem Vorzeichen eines "Was-wäre-wenn" greifen nämlich weit mehr in die Wirklichkeit ein, als so manche/r vermuten würde. Und wenn diese Erwägungen dann auch noch mit einer in Ost-Berlin beginnenden Karriere als Philosoph auf einer fiktiven Hochschule einsetzen, die zudem vor und nach der "Wende" auch Reisen nach Leningrad (oder nicht) sowie nach Vietnam (oder nicht) betreffen und unter der Nach-Wende-Bezeichnung "Hochschule für Kulturwissenschaften" die Philosophie immer mehr zum randständigen Fach degradiert, dann sind all das potentielle Fallstricke, die den Protagonisten Lichtenau auf akademisch wie bürokratisch höchstem Niveau herausfordern. Gespiegelt wird das wiederum in Lichtenaus Lebenspartnerin, die es als Lektorin für Groschenromane mit einem so eitlen wie beratungsresistenten Bestsellerautor zu tun hat.
Für die Leserschaft hingegen entfaltet sich in sprachlich fein ziselierter Präzision eine durchdeklinierte Abfolge von Ereignissen und Nichtereignissen, die einen von der ersten bis zur letzten Seite zu inspirieren sowie immer wieder aufs Neue mit Sparschuhs Lakonie und Selbstironie aufs Beste zu unterhalten vermag. Und im Anschluss daran dürfte, könnte, sollte so mancher sich angeregt sehen, dem Philosophen Hans Vaihinger und seiner Philosophie des "Als Ob" nachzuspüren.
(Aber: Nobody is perfect. Auf Seite 51 heißt es am Ende des zweiten Absatzes "condratictio in adjecto" anstatt "contradictio in adjecto" - ein charmanter Schreibfehler, der anschließend aber gleich korrekt als "Widerspruch in sich" erläutert wird.)
Weitere Besprechungen zu Werken von Jens Sparschuh siehe:
Büchernachlese-Extra: Jens Sparschuh