buechernachlese.de
|
Der Plot hat was: Wolfgang muß einen Aufsatz über Engel schreiben.
Von dem besten Aufsatzschreiber der Klasse erwartet der Lehrer aber etwas
Besonderes. Also schreibt Wolfgang nicht über Seraphim und Cherubim,
sondern über seine kleine Schwester Hanna. Denn trotz der in Sachen
Herzenswärme zwischen "Kanada" und "Nordpol" pendelnden Mutter, und
trotz des nie dagegen aufbegehrenden, asthmakranken Vaters versprüht
Hanna bis zuletzt Lebensfreude.
Heutzutage dem Gebot der Nächstenliebe
ein Buch zu widmen und dabei ganz bewußt Gott als Ansprechpartner
einzuführen, hätte eine im besten Sinne provokative Geschichte
werden können. Angela Sommer-Bodenburg (immerhin Autorin vom "kleinen
Vampir") unterläuft dies aber mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit.
Mit der platten Begründung, daß die Mutter erst nach der Heirat
von Vaters karriereverhindernden Asthma erfahren hatte, häuft die
Autorin ein Klischee auf das andere, um diese Figur zum Inbegriff eines
Hausdrachens werden zu lassen. Der Vater in der Rolle des feigen (und noch
geizigeren) Pantoffelhelden ist zwar etwas "gebrochener", verbirgt
sich doch in ihm ein verkannter Dichter, wirkt aber letztlich nur inplausibel.
Nun gut, kleine Kinder (allerdings nicht mehr die vom Verlag angegebene
Zielgruppe) fühlen sich meist ihren Lebenssituationen ausgesetzt,
ohne das Warum hinterfragen zu können. Und es ist wirklich herzzerreißend,
mit welcher Ignoranz Hannas Bedürfnisse übergangen werden. Tatsächlich
ist Hanna mit ihren lustigen Wortverdrehern und ihrer philosophischen Fähigkeit,
die Brutalität ihrer Eltern auf den Punkt zu bringen, noch die lebendigste
Figur. Aber sie verkommt zum Beobachtungsobjekt ihres zwar mitfühlenden,
aber letztlich handlungsunfähigen Bruders. Der findet immer mehr Gefallen
daran, seiner Schwester die Rolle des Engels aufzubürden, der von
Gott die undankbare Aufgabe erhalten hat, ihren Eltern die Liebe beizubringen.
Die beste Stelle des Buches ist denn auch die, als Hanna sich genau gegen
diese Zumutung wehrt. Da hofft man noch wenigstens auf eine besondere Volte
am Schluß. Aber die läßt einem das Blut in den Adern gefrieren.
Denn da geht es beim Familienausflug zum Aussichtsturm, und Hanna springt
vor den Augen des Bruders samt himmlischen Gefieder: "Ja, ich kann wirklich
ihre Flügel sehen. Sie sind weiß, an den Spitzen rosa und nicht
sehr groß, gerade richtig für Gottes kleinsten Engel." Und
mit dem letzten Satz antwortet Wolfgang dann: "Hanna? Hanna ist wieder
beim lieben Gott, wo sie hingehört!"
Was will uns die Autorin damit nun sagen? Und wem? Der Ich-Erzähler Wolfgang könnte siehe Zielgruppe 13 Jahre alt sein - mit dessen Art von Zeugenschaft sollten
sich die Gleichaltrigen jedoch wohl lieber nicht identifizieren. Und den
jüngeren, denen man die Geschichte des schlichten Aufbaus wegen durchaus
zumuten könnte, ist mit Hannas Lösung wohl auch nicht geholfen.
Man kann nur hoffen, daß dieses ungare "Produkt" einer
Putten-Legende nicht einen künftigen Trend bezeichnet. Er würde
selbst die biederste Trivialliteratur der 50er Jahre unterbieten!