buechernachlese.de
|
Gerade in einer Zeit, in der Einsparmaßnahmen insbesondere in
den schon bedenklich abgespeckten Bereichen Bildung, Medizin und Soziales
von den sogenannten Zwei-Drittel-Mehrheiten zur höchsten Tugend erklärt
werden, ist es erstaunlich, daß der Elan der von diesen Einsparmaßnahmen
Betroffenen nicht weit mehr nachläßt. So will Otto Seydel nach
wie vor "Zum Lernen herausfordern", und bezieht sich dabei auf seine Erfahrungen
als Lehrer und nunmehriger Leiter der Unterstufe innerhalb des reformpädagogischen
Modells Salem. Die Schule Schloß Salem wurde 1920 von Kurt Hahn,
seines Zeichen Privatsekretär des Prinzen Max von Baden in einem ehemaligen
Zisterzienserkloster, 15 Kilometer vom Bodensee entfernt, begründet.
Das Konzept dieser inzwischen klassenstufenweise auf drei Standorte verteilten
Internatsschule war zum einen durch die reformpädagogische Landerziehungsheimbewegung
(Hermann Lietz, Paul Geheeb u.a.), vor allem aber auch durch die englischen
Internatstraditionen beeinflußt.
Nach 1945 "gezwungen" sich
um staatliche Anerkennung zu bemühen, ist die Schule heute ein Gymnasium,
das neben dem Abitur in einem englischsprachigen Zweig zudem das Erlangen
des "International Baccalaureate" ermöglicht. Ein Drittel der
Schüler setzt sich mittlerweile auch aus (Leistungs-)Stipendiaten
zusammen, denen das Schulgeld teilweise oder ganz erlassen wird; externe
Schüler sind aber nach wie vor die Ausnahme. Koedukation gab es von
Anfang an, die Anzahl von Mädchen und Jungen halten sich z.Zt. in
etwa die Waage. Die Schüler leben in "Mentoraten" zusammen,
betreut jeweils von einem Lehrer, der mit einem Teil seines Deputates für
diese Aufgabe freigestellt ist. Lehrer und Erzieher wohnen ebenfalls samt
ihren Familien innerhalb des Internates. In der Unterstufe umfassen die
Mentorate in der Regel nur 10 bis 14, in den anderen Stufen 15 bis 20 Schülerinnen
bzw. Schüler. Das außerschulische Angebot Salems ähnelt
dem anderer Landerziehungsheime. Hervorzuheben sei immerhin "Hockey"
als Schulsport, das Segelangebot im schuleigenen Hafen und eine intensive
Theatertradition. Soweit der äußere Rahmen.
Inhaltlich hat man
sich heute aber vor allem vier Schwerpunkte gesetzt, um sich von anderen
reformpädagogisch orientierten Internaten (und dem Ruf als "konservatives"
Internat) abzuheben. Die "Erziehung zur Verantwortung" verpflichtet
alle Schüler zu einem Ämterdienst, der in unterschiedlichen Funktionen
und mit vielfältigen Aufgaben zum gemeinsamen Leben in der Schule
beiträgt. Kurt Hahn hatte die Schule als ein "Modell des Staates"
aufgefaßt, in dem jeder "Bürger" öffentliche Verantwortung
zu übernehmen hat. Überspitzt formuliert: "Die Schule muß
zusammenbrechen, wenn die Schüler ihre Mitarbeit verweigern."
Zudem ist ab Klasse 10 jeder Schüler zu einem sozialen Dienst außerhalb
der Schule verpflichtet, z.B. bei der Feuerwehr, beim Sanitätsdienst
oder zum Einsatz im Asylbewerberheim.
Die internationale Ausrichtung spiegelt
sich zum einen in der Zusammensetzung von Schüler- und Lehrerschaft
sowie durch über Europa hinausreichende Austauschprogramme. Großgeschrieben
ist auch der Schwerpunkt "Erlebnispädagogik", der die Persönlichkeitsentwicklung
über das Rekapitulieren abstrakter Begriffe hinaus prägen helfen
soll. In den fünf Kapiteln seines Buches, die sich zum größten
Teil aus schon veröffentlichten Aufsätzen zusammensetzen, schildert
Otto Seydel sehr erfrischend das, was bekanntermaßen die Spannung
zwischen Theorie und Praxis ausmacht.
Wenn ein Schüler während
des Unterrichtes wegen eines Feuerwehreinsatzes einfach aufstehen und den
Klassenraum verlassen darf, so ist das zwar sicher ein Beispiel "für
das Leben zu lernen", andererseits hat aber auch der Lehrer das Problem,
mit dem Schüler den versäumten Unterrichtsstoff wieder nachzuholen.
Ganz abgesehen davon, daß dabei auch das (allerdings seltene) Risiko
des Scheiterns besteht, weil ein Schüler diese Freizügigkeit
zur Verantwortung mißbrauchen könnte. Immerhin erwüchse
daraus wiederum eine fruchtbare Auseinandersetzung, denn ein Mißbrauch
konkreter Verantwortlichkeiten hätte auch ganz konkrete und für
die Schüler spürbare Folgen. Umgekehrt zeitigen die den Schülern
abverlangten Pflichten innerhalb und außerhalb der Schule auch Anerkennung
über eine gute Zensur auf dem Zeugnis hinaus. Die Teilnahme an den
Feuerwehreinsätzen und u.a. die Aufführungen der Theatergruppe
werden nämlich z.B. auch von den lokalen Printmedien gewürdigt.
Neben vielen anderen interessanten Betrachtungen und Anregungen(Projekt-,
Epochenunterricht), sind es vor allem zwei Punkte, die ein breiteres Echo
verdienen. Das eine gilt der Lehrerrolle. Sehr überzeugend (und für
so manchen Schulleiter als dringender Anstoß empfohlen!) sind Seydels
Überlegungen zu dem steigenden Krankenstand innerhalb eines Kollegiums,
und was ein Schulleiter, aber auch "weisungssüchtige" Kollegen
dagegen tun könnten. Das andere scheint den "konservativen"
Ruf zu bekräftigen, erweist sich dann aber anhand der Fallbeispiele
als durchaus bedenkenswert. Gemeint ist der Ansatz der "Askese",
wonach den Schülern z.B. Kaugummikauen und Colatrinken, aber auch
das Spielen mit dem Gameboy untersagt und der Fernsehkonsum auf einen Termin
pro Woche beschränkt wird. Demgegenüber stehen viele Feste zu
festgelegten Zeiten (Sicherheit durch Rituale) sowie die Möglichkeiten,
im Spiel oder s.o. auch im "Dienst" reale Erfahrungen zu machen.
Vieles, was Neil Postman in seinem neuen Buch "Das Ende der Erziehung"
für die öffentlichen Schulen in den USA fordert, scheint auf
Schloß Salem längst gute Tradition zu sein. Angefangen vom "Recht
auf Irrtum" bishin zur Erkenntnis, daß Reformen per se nie endgültig
definiert werden können, sondern "reversibel" sein müssen. So
ist dem Vorwort der ehrenwerten Hildegard Hamm-Brücher insofern nicht
zu widersprechen, als daß solcherart Internatserziehung eine ernsthaft
zu prüfende Alternative zu den öffentlich staatlichen Schulen
darstellt.
Zu bedenken bleibt aber, daß Salem trotz aller politcal
correctness im Schulbetrieb in dreifacher Hinsicht elitär ist: Ein
Gymnasium, das seine Schüler entweder aus finanzkräftigen Familien
und/oder aus dem Pool der Leistungsstarken rekrutiert. Und bei aller Offenheit
der Überlegungen von Otto Seydel wären darüberhinaus genauere
Angaben über die Forderungen an die Lehrer bzw. die Frage nach deren
Selbstausbeutung wünschenswert gewesen. Denn als Job fassen diesen
Beruf die allerwenigsten auf, aber ab einem bestimmten Siedepunkt an "Einsparmaßnahmen"
redet man entweder vom Makarenko-Syndrom oder von Resignation.