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Sir Thomas Morland muss als Unterschatzkanzler Heinrichs VIII. im Jahre 1521 eine für ihn sehr unerquickliche Untersuchung einleiten. Innerhalb kurzer Zeit wurden in London mehrere Jugendliche tot aufgefunden, die in beiliegenden Briefen ihr Verlassensein von Gott beklagten. Allem Anschein nach Selbstmorde, die König wie Klerus in Erklärungsnotstand bringen könnten - das gemeine Volk redet bereits von einer um sich greifenden "Seelenpest", und ein derart beunruhigtes Volk droht mit seinen Fragen und Gerüchten die gottgewollte Ordnung zu stören. Ganz abgesehen davon, dass der Lordkanzler und Londons Bürgermeister zu dem Untersuchungskomitee lediglich ihre Stellvertreter entsenden und auch der Bischof Reed sowie der Vorsteher jener Schule, die bislang die meisten Opfer zu beklagen hatte, nur ihre eigenen banalen Interessen im Sinn haben, hat sich in diese Angelegenheit auch noch ein gewisser Andrew Whispers eingeschaltet. Dieser Internatsschüler aus ärmlichen Verhältnissen stellt bereits seit einiger Zeit Morlands Tochter Margaret nach und wird von ihr wiedergeliebt. Alles höchst unerfreulich, obwohl - wenn man es richtig angeht, lassen sich beide Probleme ja vielleicht gegeneinander aufheben ...
Jürgen Seidel zettelt in "Die Seelenpest" ein mehrbödiges Intrigenspiel an, das einerseits den kriminalistischen Spürsinn kitzelt und darüber hinaus sprachlich adäquat im Gewande historischer Betrachtung die Frage nach Gott stellt. Vor der Zeit der Aufklärung, d.h. ohne jede Aufklärung sind selbst jene aus der mundtodmachenden Herrscherschicht ihrem eigenen Aberglauben und den daraus bedingten Ängsten ausgeliefert. Logische oder einfach nur vernünftige Schlussfolgerungen werden sehr schnell als Ketzerei gebrandmarkt. Nicht umsonst ist es in Seidels brillant eingeführter Personage am Ende Morlands Hoffnarr Raspale, der das nachhaltigste Gottvertrauen zeigt. So sehr die nur allzu berechtigte Kritik an der Kirchengeschichte jener Zeit den Hintergrund für diesen spannungsreichen Roman abgibt, wird hier doch der Frage, ja sogar dem Sehnen nach Gott breiter Raum eingeräumt. Was zeitbedingt aberwitzig daherkommt, spiegelt gerade jene Intensität, die nicht nur bei Jugendlichen auf Widerhall stoßen müsste. Nicht um für diese oder jene Religion zu streiten, aber dem Fragen danach nicht auszuweichen, sich auch vom heutigen säkular geprägten Zeitgeist weder so noch anders unmündig halten zu lassen.
Unter anderem durch die Jahreszahl genau verortet, hinterfragt Seidel denn auch sogar den dank Funktion und Namensähnlichkeit nur unschwer kenntlichen Thomas More alias Morus äußerst kritisch. Er schreibt damit diesem Humanisten und Autor von "Utopia" einen keinesfalls geradlinigen Erkenntnisweg zu, der ohne starke Frauen an seiner Seite nicht gangbar gewesen wäre. Derart durch Lebenserfahrung geerdet, empfiehlt sich dieses Buch als fesselndes Leseabenteuer.