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Richard Schröder geht es in seiner Aufsatzsammlung um die Überwindung
der Fremdheit zwischen Ost- und Westdeutschen, aber auch um allgemeingültig
Grundsätzliches. Ein weites Feld, das mit den bereits abgedruckten
Zeitungsartikeln und (beinahe) gehaltenen Reden aus den Jahren 1990 bis
1995 nur schwerlich auszufüllen ist.
Die "Fragen nach der Vereinigung" beantwortet Schröder
zuerst mit einer Erörterung der Demonstrations-Losungen im November
'89, um alsbald die Begriffe "Volk" und "Nation" am Beispiel
Deutschland einer historischen Untersuchung zu unterziehen. Den "Wessis"
wird verdeutlicht, daß den Bürgern der DDR die Diktatur von
Sowjet-Rußlands Gnaden nicht angelastet werden kann und den "Ossis",
daß der Westen nach der Vereinigung nicht per se schuld am Verlust
der Arbeitsplätze sei. Weiter heißt es bei ihm: "Wir sollten
die deutsche Nation (..) von den Aufgaben her bestimmen, die nur wir Deutschen
und wir Deutschen nur gemeinsam lösen können, eben unsere gemeinsame
Angelegenheit, lateinisch: res publica. (..) Jede Nation ist eine Haftungsgemeinschaft
und sollte mehr nicht sein wollen." Neben einer Vielzahl ärgerlicher
Redundanzen finden sich in diesem Kapitel pragmatische Lösungsansätze
in Sachen Eigentumsregelung, klare Worte zu den Möglichkeiten der
Justiz eines Rechtsstaates ("Strafprozeß als fürsorglicher Therapieersatz?
Nein danke!"), provokative Erkenntnisse wie: "Die DDR-Diktaur ist vergleichbar"
aber auch eine Entgleisung wie diese, als Schröder sich für die
Verjährung von "Stasiverwicklungen" ausspricht: "Obwohl
Vergleiche gerade hier besonders hinken, kommt mir doch manchmal in den
Sinn, daß mancher westliche Student um 1968 an strafbaren Handlungen
beteiligt oder einer Gruppierung mit bedenklicher Zielsetzung angehört
hat, ohne daß ihm das heute noch zugerechnet wird." Ganz abgesehen
davon, daß diese Studenten in außerparlamentarischer Opposition
nicht nur zur Regierung, sondern zur ganzen bieder-bürgerlichen Gesellschaft
der BRD standen, hatten sie noch Jahre danach mit Berufsverboten zu kämpfen.
Im zweiten Kapitel hält Schröder "Rückblicke auf
die DDR". Die gelingen ihm sehr prägnant, Fakten und (selbst-)kritische
Kommentierung sind sauber voneinander geschieden. Er geißelt darin
die sogenannten "historischen Notwendigkeiten" und die DDR spezifische
"Wohltätigkeit". Schröder schlußfolgert: "Wir
haben zuletzt in zwielichtigen, nicht in schwarzen Zeiten gelebt. Und danach
muß auch unser Handeln beurteilt werden, nämlich kritisch, aber
wohlwollend. Es war eine Krankheit der Kommunisten, nur Schwarz und Weiß
zu sehen." Das meint ferner: "Aber auch sie, die Täter, können
noch erwarten, daß wir nachvollziehen, wie sie in diese Lage gekommen
sind." So weist er darauf hin, daß zuletzt die offiziellen Stasi-Mitarbeiter
in der zweiten Generation dienten, also bereits eine "Familientradition"
auf dem Weg zur "Stasi-Sozialisation" im Gepäck hatten. Sehr
bemerkenswert sind desweiteren die Beiträge zum Bruch der großen
Koalition der letzten DDR-Regierung, die Schröder um eine nicht gehaltene
Rede vor der Volkskammer erweitert hat, sowie seine Auseinandersetzung
um die Kirche in der DDR. Was die Kirche betrifft, spitzt er wohl sehr
richtig zu: "Erst als Mutter der Revolution gefeiert, was zuviel der
Ehre war, wird sie nun als Stütze des Systems verdächtigt, was
zweifelos zuviel der Schande ist." Zu Stolpe allerdings vermeidet er
in diesem Zusammenhang jede präzisere Erklärung.
Im letzten Kapitel hebt Schröder in akademische Sphären ab.
Zuerst stellt er den Satz von Paulus: "Alles ist mir erlaubt, aber nicht
alles nützt" den Zitaten von Saint-Just, Kant und Nietzsche gegenüber.
Hiervon leitet sich dann auch der Buchtitel "Vom Gebrauch der Freiheit"ab. Die anschließenden Artikel untersuchen Begriffe wie "Würde",
"Widerstand", "gerechter Krieg" und "Gott" (in der Verfassung),
um sich nach der 11. Feuerbachthese von Karl Marx als Letztes über
die Versuche inklusiver Sprache auszulassen, die ja unter anderem mit dem
angehängten "-Innen" bei Berufsbezeichnungen den (zumeist männlichen)
Ästhetikern Kopfschmerzen bereitet.
Was ihre Brillanz und Strukturiertheit angeht, halten nur wenige Beiträge
Schröders einem Vergleich mit den Artikeln und Reden eines Schorlemmer
oder eines von Weizsäcker stand. Das wäre zu vernachlässigen,
zeichnen sich doch die Inhalte seiner Auseinandersetzungen durch hohe Brisanz
und Redlichkeit aus. Aber was hat den Verlag und den Autoren nur geritten,
ein derartiges Sammelsurium in ein einziges Buch zu pressen? Das kleine
Vorwort am Anfang läßt weder eine lektorale Überarbeitung
noch eine ausführlichere Kommentierung vermissen. Schade - es hätten
drei mitreißende Bücher sein können, nein: müssen!