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Jekaterina Sadur

Das Flüstern der Engel

Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999, 196 S., ISBN: 3-518-41051-2, >>> Amazon
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Ljolka lebt bei Großonkel Kirscha und Großtante Gruscha in einem kleinen Vorort von St. Petersburg. Ihre Mutter hat nur wenig Zeit für sie, aber das scheint Ljolka nicht viel auszumachen. Die Zieheltern lieben sie abgöttisch und sind sehr stolz auf Ljolkas Intelligenz. Vier Jahre alt ist sie erst, aber ihr entgeht kaum etwas. Nicht nur, daß Ljolka bereits in einer alten Fibel lesen kann und einige englische Wörter aufgeschnappt hat, sie bekommt auch vieles mit, was eigentlich nur für die Augen und Ohren der Erwachsenen bestimmt ist. Die vergeblichen Annäherungen Natalja Andrejewenas an den Buchbinder Chariton Klimowitsch genauso wie dessen Annäherungen an Großtante Gruscha, nachdem Großonkel Kirscha an den Folgen jugendlicher Gewalt gestorben ist. Und sie geht dem Gerücht nach, daß Großonkel Kirscha tatsächlich aus adligem Hause stammen könnte, so wie er es zeitlebens immer wieder behauptet hatte. Tante Gruscha stirbt dann kurz nach dem Umzug in die Stadt zu Ljolka und ihrer Mutter. Ein großer Verlust, der baldige Tröstung verlangt.
Bereits mit knapp 24 Jahren legt Jekaterina Sadur einen Roman vor, der den alterstypischen Rahmen autobiographischer Abnabelungen bei weitem sprengt. Der für die deutsche Leserschaft gewählte Buchtitel "Das Flüstern der Engel" ist jedoch ein wenig irreführend. Zwar werden hier auch die Glaubensvorstellungen von Tante Gruscha erörtert, wonach am Totenbett Engel die Seele eines Sterbenden gegen die finsteren Mächte der Hölle verteidigen - und in den Augen Ljolkas wird dies durchaus zu einer beobachtbaren Realität - doch diese Vorstellungen sind nur eine kleine Facette in dem geheimnisvoll inszenierten Gegenüber von alter und neuer Weltsicht. Der Orginaltitel "Perelëtnye raboty" spielt auf das Ladenschild Klimowitschs an, das Buchbindearbeiten anpreisen will, dem aber in der deutschen Übersetzung die beiden 'B's fehlen. Ljolka ergänzt die Lücken zu dem Wort "SuchFindearbeiten", wörtlich übersetzt aber wären das "Überflugarbeiten", die sich das Kind alsbald zu erklären sucht. Angesichts der sich deutlich abzeichnenden Schulterblätter von Chariton Klimowitsch gar kein Problem: Würde seine Haut platzen, kämen zwei Federstutze hervor und er wäre ein geflügelter Helfer, der anderen Arbeit besorgen könnte.
Ljolkas Geschichte wird zwar aus dem Blickwinkel, aber, abgesehen von der direkten Rede, keineswegs mit den Worten einer vierjährigen beschrieben. Die aufmerksame Klarsicht des Mädchens erweist sich als poetisch-rätselhafter Rückblick auf ein Leben, das nicht zu Ende gelebt werden kann. Die überschaubaren Strukturen des Vorortes mit einem Personal, das auch bei Tolstoi oder Dostojewski Platz gefunden hätte, sind in Auflösung begriffen. Angesteckt von dem brutalisierten Nebeneinander in der Großstadt, wird bereits auch hier die Würde des Einzelnen wie die der Gemeinschaft angetastet. Hannelore Umbreit hat den Text offenkundig hervorragend ins Deutsche übersetzt und der unverstellten Wahrnehmung des Ist-Zustandes einen melodischen Klangteppich unterlegt: Kindliche Liebe, die bei aller Egozentrik mehr will und kann, als die der Erwachsenen - und die stets eines allzufrühen Todes sterben muß. Nur Kinder hören das Flüstern der Engel, und so wird das Wegfegen des Alten zugunsten des scheinbar besseren Neuen zum Trugschluß.
Diese nahezu archetypische Geschichte lädt in ihrer wunderbar flüssigen Sprache zum wiederholten Lesen und zur steten Neuinterpretation ein.

Buechernachlese © Ulrich Karger


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