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DES MAUREN LETZTER SEUFZER beginnt mit einem Sippenkrieg in einem südindischen
Dorf am Anfang dieses Jahrhunderts und endet mit einem gigantischen Blutbad
im Bombay dieser Tage. Vielleicht beginnt aber auch alles schon viel früher,
denn der Held dieses Epos ist mütterlicherseits eventuell ein Abkömmling
Vasco da Gamas und schreibt dort alles nieder, wo es mit dem Urahnen seinen
Anfang genommen hat: Im tiefsten Andalusien. Moraes Zogoiby, dessen Nachname
hebräiischen Ursprungs ist und soviel wie "der Glücklose"
bedeutet, entstammt einer Familie, in der sich vor allem die Frauen durch
zähe Geschäftstüchtigkeit, unbändige Kreativität
und noch unbändigere Streitsucht auszeichnen. Die Grundlage ihres
Reichstums bildet der Gewürzhandel und eine hitzige Ich-Bezogenheit,
die ihresgleichen sucht. Moraes bzw. schlicht "Mohr" ist von Kindesbeinen
an einem Almagan an sich widersprechenden Temperamenten und hinterhältigen
Niederträchtigkeiten ausgesetzt, so daß seine physische Behinderung,
nämlich eine verkrüppelte Rechte, nur noch das Tüpfelchen
auf dem "i" setzt, wäre da nicht noch ein anderes Phänomen:
Im Gegensatz zu dem sich selbst bestimmend auf drei Jahre eichenden und
blechtrommelnden Oskar Matzerath eines Günter Grass muß Mohr
sein Leben in doppelter Geschwindigkeit durchlaufen. Schon nach 4 ½
Monaten Schwangerschaft in die Welt gesetzt, hat er mit zehn den Körper
eines 20-jährigen und bei Niederlegung seiner Erinnerungen als 36-jähriger
den ausgelaugten Organismus eines 72-jährigen. Hinzu kommt, daß
auch ein Normalsterblicher nach Durchleiden der verheerenden Erlebnisse
Mohrs vorzeitig gealtert wäre ...
Dieser neue Roman von Salman Rushdie ist in seiner Vielschichtigkeit
kaum noch zu überbieten: Märchenhafte Traumwandeleien, beißend
satirische Gesellschaftskritik und theologisch-philosophische Erörterungen
füllen den Rahmen einer das TV-Dallas in seinem kriminellen Intrigenreichtum
weit in den Schatten stellenden Familiensaga aus. Seine Erfindungsgabe,
die jeweils schlimmste Annahme über die Gegenspieler Mohrs zu übertreffen,
kulminiert zuletzt in einer Liebeserklärung an die Unvollkommenheit
des Menschen und zugleich in der Mahnung, einem allzu naiven Weltbild lieber
gestern denn erst heute abzuschwören. Den entlarvenden Zynismus, mit
dem allen Religiösen in seinen unterschiedlichsten Ausformungen das
Daseinsrecht abgesprochen wird, überbietet Rushdie mit zarten sehnsuchtsvollen
Sentenzen, die jedweder Resignation Paroli bieten. All diese Paradoxa aber
aufzulösen, überläßt er der Leserschaft und hält
damit den Spannungsbogen bis zuletzt am Vibrieren.
Eine Reportage und weitere Besprechungen zu Werken von Salman Rushdie siehe:
Büchernachlese-Extra: Salman Rushdie