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Adam Sarkis arbeitete als syrischer Polizist und bekämpfte zugleich im Untergrund die Diktatur des Präsidenten Baschar al-Assad. Kurz bevor seine Doppelrolle aufzufliegen droht, müssen seine Frau und seine kleine Tochter ohne ihn die Flucht über Libyen und das Mittelmeer antreten. Doch als schließlich auch er fliehen kann, und er in Calais ein Zelt im "Dschungel" aufgeschlagen hat, findet sich von beiden keine Spur. In dem illegalen Flüchtlingslager, das alle nur den "Dschungel" nennen, droht vielen aus purer Verzweiflung der Wahnsinn. Um dem zu entgehen, beginnt Adam sich einem sudanesischen Jungen zu widmen, der "alleinreisend" zum Spielball einer Art Mafia unter den Flüchtlingen geworden ist. Als erstes geht Adam mit dem vergewaltigten Kind in ein Krankenhaus, wo er auf den jungen französischen Polizisten Bastien trifft, der ihn unterstützen will. Wiewohl die Gesetzeslage es den mit dem "Dschungel" befassten Polizisten verbietet, bezieht Bastien seine anfangs widerstrebenden Kollegen und auch die eigene Familie in die illegalen Bemühungen ein.
Olivier Norek legt mit "All dies ist nie geschehen" einen Roman vor, der im französischem Original als bester Kriminalroman mit dem Étoile du Parisien du meilleur polar 2017 ausgezeichnet wurde.
Doch dieser Roman hätte auch genreübergreifend hohe Auszeichnungen verdient, denn er liefert eine sehr differenzierte Momentaufnahme von dem Versagen eines vorgeblich zivilisierten Rechtswesens. Und die Sicht darauf beschränkt sich keineswegs nur auf Frankreich, sondern wirft auf ganz Europa kein gutes Licht.
Versagt wird hier auf ganzer Linie, d.h. das Versagen wird für das ganze Spektrum seiner Wortbedeutungen ausgelotet und reicht von der Unfähigkeit, Realitäten als solche wahrzunehmen bis zur zynischen, in Gesetze gemeißelten Ignoranz, die sich rein waschen will, ohne sich dabei nass zu machen.
Der Roman setzt als Prolog bereits auf den ersten zwei Seiten mit einer hohen Hürde ein, die einem bei auch nur halbwegs ausgeprägtem Mitgefühl das Weiterlesen kaum noch möglich macht. Irgendwo auf dem Mittelmeer wird in einem Boot voller Flüchtlinge ein hustendes Kind als Bedrohung für die Weiterfahrt auf dem Land angesehen …
Im ersten von vier Hauptteilen werden die Umstände in Syrien geschildert, die Adam und seine Familie zur Flucht zwingen. Man ahnt bald, dass es sich bei dem hustenden Kind um seines handelt.
Die drei folgenden Teile spielen in Frankreich, und die Einführung des Polizeikommissariats und dessen Bearbeitung "normaler" Kriminalität lassen einen den ersten Teil nicht vergessen - schon gar nicht als die Polizisten sich mit der wie eine außerhalb des Gesetzes stehende Exklave des "Dschungels" auseinandersetzen müssen.
Im "Dschungel" herrscht trotz oder gerade wegen des allseits erlebten Leids das Gesetz der Stärkeren mit kaum noch zu unterbietender Grausamkeit und Brutalität. Dafür werden von den die Not auszugleichen versuchenden Protagonisten genauso treffende Erklärungen gefunden, wie für die Ohnmacht von Polizisten und Gesetzgebern - denn neben der Außenpolitik gibt es nun auch einmal die Innenpolitik, die auf die Ansprüche ihrer eigenen Staatsbürger abheben muss. So sorgen gerade die positiv besetzten Helden wie Adam und Bastien, die keineswegs nur "gut" sind, aber immerhin die Grenzen des Machbaren ausloten, für eine die Leser mit ins "Boot" (sic!) holende Spannung. So kann es am Ende auch kein Happy End geben, wiewohl der "Dschungel" da auch in realiter aufgelöst wird - damit aber die Konflikte und Probleme nur verschoben werden.
Norek konnte für seinen Roman auf eigene Kenntnisse als Polizist (Police Lieutenant) und ehemaliger Mitarbeiter bei Pharmaciens sans frontières sowie auf offenkundig sehr fundierte Recherchen vor Ort zurückgreifen.
Dem Autor ist ein nicht hoch genug zu würdigender Balanceakt gelungen, der ihn jedwedes Klischee sowie unnötig plakative Zuspitzungen vermeiden ließ. Die Leserschaft wird von der ersten bis zur letzten spannungsgeladenen Seite gefordert, sich einer Wirklichkeit zu stellen, die uns alle betrifft und uns womöglich schon bald noch weit mehr als bisher betreffen wird. Wegschauen geht nicht mehr.