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Kurz vor der Jahrhundert- und Jahrtausendwende häufen sich bei
uns die staatsbedeutenden Jubiläen. Vor 50 Jahren wurden nahezu zeitgleich
das "Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland" sowie die "Verfassung
der Deutschen Demokratischen Republik" verkündet. Vor 10 Jahren eröffneten
die mutig demonstrierenden Menschen im Osten Deutschlands die Chance, wieder
einmal ein Volk und ein Staat zu werden. Doch wie weit muß man zurückblicken,
um die Hintergründe zu den Teilungen und Vereinigungen Deutschlands
auszuleuchten? Und wie bringe ich so einen historischen Rückblick
einem jugendlichen Publikum nahe, ohne daß es gleich nach den ersten
Sätzen gelangweilt abwinkt?
Bevor der bekannte Kinderbuchautor Manfred Mai sich nur noch aufs Schreiben
verlegte, hatte er als Lehrer Geschichte und Deutsch unterrichtet. Gute
Vorausetzungen, um sich auf so ein riskantes Projekt einzulassen. Noch
dazu, wenn man wie er die deutsche Geschichte nicht erst mit Karl dem Großen,
sondern bereits mit den rund 100 Jahre nach Christi Geburt verfaßten
Erörterungen des römischen Geschichtsschreibers Tacitus eröffnen
will.
Der eigentlich naheliegende, von Geschichtslehrern leider meist
gemiedene Kunstgriff des Autors ist das Erzählen. Anstatt "geschichtsträchtige"
Jahreszahlen auf unsinnige Reime gleich kryptischen Zauberformeln zu reduzieren,
nimmt Manfred Mai eine überschaubare Anzahl von Fäden auf, setzt
sie in Beziehung zueinander und entwickelt so ein kurzweiliges Geflecht,
das die wesentlichen Entwicklungen unseres Landes vor Augen führt.
Den Herrschern stellt er dabei stets die jeweilige Lebenssitutation der
"normalen" Bevölkerung gegenüber. Kriege, Volksaufstände,
Epidemien aber auch technische Neuerungen, künstlerische Ausdrucksformen
und nicht zuletzt das sich reformierende Christentum werden so in einen
Zusammenhang gebracht, der unter anderem Erklärungen dafür gibt,
warum sich die Gesamtheit der Deutschen mit Revolutionen so schwer tat
und wie wichtig es ist, daß Kinder heute ein Recht auf Bildung haben.
Die erste Hälfte dieser "Erzählung" reicht von den
losen Stammesverbänden der Germanen bis ins Jahr 1848, die zweite
geht entsprechend ausführlicher auf die Zeit danach bis zum 3. Oktober
1990 ein, um mit der Bemerkung zu enden, daß "die vierzigjährige
Trennung viele Wunden und Narben hinterlassen hat." Die Illustrationen
von Julian Jusim greifen berühmte Vorlagen aus den Geschichtsbüchern
und Zeitungen auf und gewähren in ihrem einheitlich kolorierten Zeichenstrich
eine reizvolle Verklammerung all der einzelnen Geschichten, die die Geschichte
Deutschlands ausmachen.
Insgesamt ist das Geschichtsbild, das hier vermittelt wird, von einer
fesselnden Klarheit, die sich auch nicht scheut, einen Kaiser und seine
Heeresführung der "Feigheit vor dem eigenen Volk" zu zeihen,
weil sie nicht die Verantwortung für die Niederlage im I.Weltkrieg
auf sich genommen haben. Solche Geradlinigkeit ist eingebettet in das durchgängig
spürbare Bemühen um objektive Fairness für möglichst
alle Sichtweisen auf ein historisches Ereignis. Jugendliche werden das
zu schätzen wissen und sich auf dieser Grundlage gewiß eine
eigene Meinung bilden können. Aber auch Erwachsene, deren Geschichtsunterricht
nur Stückwerk erlaubte, würden hier so manche Lücke schließen
können.
Weitere Besprechungen zu Werken von Manfred Mai
siehe:
Büchernachlese-Extra: Manfred Mai