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Einem Mädchen wird etwas angetan. Schon unzähligen Kindern
wurde etwas angetan, worüber sie dann lange Zeit nicht reden können.
Jetzt ist es Sarah passiert. Ihre Mutter versteht nicht, warum Sarahs schulische
Leistungen nachlassen und warum Sarah mit 11 Jahren unbedingt eine Puppe
haben will. Sarah fügt ihrer neuen Puppe eine schreckliche Verletzung
zu, aber auch das sieht niemand.
Die Mutter erwartet von Sarah durchweg gute Leistungen. So fördert
sie auch Sarahs Zeichentalent und schickt sie schon seit längerem
zu einem Privatlehrer. Dieser Zeichenlehrer hat viel Erfolg mit einem Aquarell,
das ein schlafendes, nacktes Mädchen auf einem Sessel zeigt. Aber
jetzt kann Sarah nur noch einmal die Woche zu ihm. Denn wenn die Leistungen
in der Schule nachlassen, ist Sarah eben schlicht faul und soll bei jemandem
Nachhilfe nehmen. Sarahs Klassenlehrerin ist die einzige, die das Mädchen
zu verstehen versucht. Doch die Lehrerin hat Angst, lediglich ihr eigenes
Schicksal auf das von Sarah zu projezieren. Zwanzig Jahre zuvor ist ihr
dasselbe passiert wie dem Mädchen. Zwanzig Jahre zuvor, dachte auch
sie, der Kanal sei wegen ihr zugefroren und das Wasser könne nie mehr
zum Meer fließen.
"Das Mädchen am Kanal" ist ein Buch, von dem man nur hoffen kann,
daß es stets rechtzeitig entdeckt wird, womöglich in einer Bibliothek
oder in der Schule. Kinder, die ein sprachlos machendes Erlebnis erleiden,
stehen Erwachsenen gegenüber, die wegen ihrer eigenen Kindheitserlebnisse
entweder taub geworden sind oder gar zu Tätern werden. Wem aber wollte
man zu welchem Anlaß eine solche Geschichte schenken? Ein "Vorwand"
könnte immerhin der Hinweis auf die Sprachfertigkeit Thierry Lenains
sein. Seine poetische Lakonie, hervorragend ins Deutsche übertragen
von Anne Braun, erinnert ein wenig an Kafkas Erzählhaltung. Selbst
das einem Jugendbuch gemäße "Happy End" kann nicht darüber
hinwegtäuschen, wie hilflos Kinder erwachsengewordenen Kindern samt
ihren Deja-vu-Erlebnissen ausgesetzt sind.
Lenain entwickelt seine Geschichte sehr verantwortungsbewußt.
Das Opfer Sarah wird als Erzählfigur nicht noch einmal mißbraucht.
Schnörkellos, ohne jede Überladung wird die Perspektive Sarahs
von den Erinnerungen der Klassenlehrerin abgelöst. Keine detaillierten
Einzelheiten der Vergehen, sondern nur ahnungsvolle Hinweise, die immer
wieder in die Sprachlosigkeit münden - das perfide Mittel eines jedweden
Mißbrauchenden.
Diese mit dem "Grand Prix du Roman Jeunesse" ausgezeichnete
Erzählung ist schwerlich einer Altersgruppe zuzuordnen. Betroffenen
Kindern ist sie womöglich bereits ab 12, ansonsten nicht vor 14 Jahren
zu empfehlen und dann am besten als Klassenlektüre in der Schule.
Eines Altersgrenze nach oben hat diese Erzählung jedenfalls nicht.