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Hermann Kurzke

Hymnen und Lieder der Deutschen

Dieterich, Mainz 1990, 251 S., ISBN: 3-87162-018-1, >>> Amazon
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Ex und hopp - Überlegungen zur deutschen Innenpolitik werden mehr denn je als Wegwerfartikel gehandelt. Aus Willy Brandts gefordertem homogenen Zusammenwachsen wurde ein temporeiches, ränkevolles Zusammenkleistern. Aber dies einig Volk führt ja auch in Versuchung: Vom Fernsehen den Zeitraffer gewohnt (slow motion höchstens für Szenen vor dem Fußball-Tor), läßt es sich nur allzugern von den eigentlichen Problemstellungen ablenken, um dann "ganz engagiert" Bewegendes wie die Frage nach dem Standort einer Hauptstadt zu erörtern. Oder die nach dem künftigen Strickmuster eines Sargtuches für ungekrönte Staatshäupter - zwei links, zwei, drei, vier rechts. Oder die nach Sang und Klang der einen, einig Landes-Hymne:
"Wo man singt, da laß dich ruhig nieder / böse Menschen haben keine Lieder."
Wenn der amorphe Volksmund zu reimen beginnt, sollte man in Deckung gehen, denn Dummheit schützt vor Strafe nicht. Und wenn derselbe Volksmund meint, mit Einigkeit und Friedensverträgen (zu Polens Westgrenze ist die letzte Unsäglichkeit sicher noch nicht gesagt ...) könnte man doch nun endlich wieder aus voller Seele und ohne schlechtes Gewissen der Sitzung eines Kleingärtnervereins den liturgischen Anfang geben, so sollte er erstmal nachsitzen und das Buch von Hermann Kurzke vor sich auf der Schulbank zu liegen haben.
Den Buchtitel HYMNEN UND LIEDER DER DEUTSCHEN werden die Augen über dem Volksmund sogar bereitwillig aufnehmen, aber dann ...
Die genaue, auf das kleinste Detail achtende Analyse dieser speziellen Gattung sangbarer Literatur, müßte eine heilende Wirkung zeigen, ließe sich das Gegenüber überhaupt auf vernünftige Argumente ein:
"Es ist erstaunlich und manchmal bestürzend, was alles auf ein und dieselbe Melodie gesungen wurde. (...) Politische Lieder sind einem ungewöhnlich hohen Verschleiß ausgesetzt."
Dieser Umstand machte sie für H.K. "zu einem Modellfall für wirkungsgeschichtliche Studien".
Sein vorgestelltes Spektrum umfaßt außer den offiziellen Hymnen der deutschsprachigen Länder auch die deutsche Rezeption des God save the King, der Marseillaise, der kommunistischen Internationale und des altkirchlichen Te Deum.
Daß der Verfasser des DEUTSCHLANDLIEDES ein oppositioneller Demokrat war und 1841 sein "Deutschland über alles" als ein Deutschland über Sachsen, Baden, Preußen und Holstein und keineswegs als eines über Frankreich, Rußland oder England verstanden haben wollte, wissen viele, aber nicht die meisten. Aber wer weiß z.B. noch, daß Brüder, zur Sonne, zur Freiheit von Kommunisten, Sozialdemokraten und Nationalsozialisten mit gleicher Inbrunst, wenn auch aus unterschiedlichem Antriebe geschmettert wurde?
Oder daß mit einem Großer Gott, wir loben dich ebenso Schindluder getrieben bzw. Textverfälschungen angestellt werden konnte wie mit der Internationale?
Und dies, so weist H.K. philologisch-sachlich nach, lag auch z.T. schon in der orginären Textstruktur begründet, ja ist sogar ein möglicher Beweis für seine "Lebendigkeit":
"Klassische und kanonisierte Texte leben geradezu davon, daß die wechselnden Epochen den immer gleichen Worten immer neue Deutungen abgewinnen."
Solch eine Aussage in obigen Zusammenhang ist nur zu verstehen als eine rein wissenschaftliche Auseinanderstzung innerhalb dieser speziell ausgesuchten Materie. Man kann und man muß auch den Text des Horst Wessel Liedes auf seine literarische Qualität hin untersuchen, um dessen Wirkungsgeschichte zu begreifen. Die Technik ist unschuldig, nur die Benutzer der Technik tragen die Verantwortung?
"Ein restaurativer Umgang mit dem vorgestellten Liedgut wäre nicht nur nicht angebracht, sondern auch zum Scheitern verurteilt. Die meisten dieser Lieder sind definitiv tot."
Und nicht nur dazu blitzt in den anhangsintensiven Kapiteln ein gut plazierter trockener Humor auf, wenn H.K. z.B. im Zusammenhang mit den unverdächtigeren Liedern der Arbeiterbewegung feststellt:
"Man kann nicht Nun reckt empor des Elends Stirnen singen, wenn man die 35-Stunden-Woche und ein ordentliches Einkommen errungen hat."
H.K. schreibt keine Hymnen, sondern hat sie untersucht. Es liegt an uns allen, insbesondere denen, die mit Politik und Bildung ihr Brötchen verdienen, aus dieser Untersuchung die entsprechende Schlußfolgerung zu ziehen. Z.B. ob eine Arbeitslosenbewegung be-rechtigteren Zugriff auf so ein altes Arbeiterlied haben könnte oder ob man nicht überhaupt auf solche Symbole, auch neugefertigte, gänzlich verzichten sollte. Denn die heutige Wechselwirkung von Form und Inhalt wird nahezu immer, früher oder später, von materialistischen oder/und Macht-Interessen korumpiert. Und der von H.K. nicht dezidiert behandelte Ausgangspunkt aller Hymnen, sind die an den Gott des Alten Testamentes gewesen. Und die beinhalteten grundsätzlich neben dem Lob und Preis einen Dank und die daraus resultierende Eigenverantwortung am Leben. Das höchstens bei Unterdrückten früherer Jahrhunderte als subtiles Nachrichtenmedium gerechtfertigte aber ansonsten auch zum beinharten Kampf aufstachelnde und bedenkenlosmachende Geplärre chauvinistischer Sehnsüchte hatte damit nie wirklich etwas im Sinn gehabt.
"Was einst die 'deutsche Seele' war, läßt sich an ihnen (Lieder und Hymnen; d.Verf.) bestens studieren. Sie gehören nicht in die Vereine und Parteien, aber in die Gymnasien und Universitäten."
Ansonsten mag es hierbei ausnahmsweise seine Richtigkeit haben: Ex und hopp damit!

Buechernachlese © Ulrich Karger


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