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Das Bayram-Fest steht vor der Tür und Hakan muss seinen Vater Rhami Bey suchen. Während Hakan seit seiner Kindheit im Berliner Wedding aufgewachsen ist und mit seinen Freunden selbstbewußt Pläne für die Zukunft schmiedet, scheint seinem Vater die ihm nach wie vor fremde Stadt jeglichen Lebensmut genommen zu haben. Immer ängstlich, immer auf der Hut und von nichts eine Ahnung, was Hakan wichtig ist. Wie soll man so einen Vater ernst und sich womöglich gar zum Vorbild nehmen? Doch jetzt ist er seit letzter Nacht nicht mehr nach Hause gekommen und die Mutter macht sich Sorgen, was sie den Gästen sagen soll, wenn er zur Feier am Abend immer noch nicht da ist.
Ein Gedicht von Nazim Hikmet aufnehmend, erzählt Kemal Kurt in seinem neuen Jugendroman 'Die Sonnentrinker' sehr einfühlsam von dem Generationenkonflikt hier lebender Jugendlicher mit ihren vormals eingewanderten Eltern. Neben den üblichen Mustern eines 'Keiner versteht mich!' spielen hier zudem die für die Eltern meist schwer zu erlernende Sprache, die unterschiedlichen Sitten, das vergleichsweise nasskalte Klima sowie der stets latente Fremdenhass eine Rolle. Hakan und seine Freunde Daffyd und Wahib dagegen besuchen das Gymnasium, verdienen sich nebenbei auf dem Potsdamer Platz ein wenig Geld mit Break-dance-Vorführungen und planen sogar schon halb im Ernst ein eigenes Programmcafé zu eröffnen - in zwei Jahren sind sie ja volljährig. Abgesehen von einigen Holperern zu Anfang versteht es Kemal Kurt, Hakans Sicht erstaunlich treffsicher in authentischer Jugendlichen-Sprache zu formulieren und sie der traditionellen Lebensweise gegenüberzustellen. Die Geschichte entwickelt alsbald einen spannungsgeladenen Sog, der einen bis zum Ende gefangen hält.
Die Suche nach dem Vater erlaubt den Blick durch ein faszinierendes Kaleidoskop unterschiedlicher Lebensweisen in Berlin. Schnell wird klar, dass es den Türken und den Deutschen, den Moslem und den Christen nicht gibt. Selbst die unvermeidliche Begegnung mit Skinheads wird hier mit einer wunderbaren Volte auf den Kopf gestellt. Am Ende hat Hakan nicht nur seinen Vater, sondern auch etwas mehr von sich selbst entdeckt.
Kemal Kurts Art über den eigenen Tellerrand zu schauen, ist dabei voll augenzwinkernder, unaufdringlicher Weisheit, der selbst hartgesottene Berliner Jugendliche erliegen werden - egal woher ihre Eltern sind.
„Die Sonnentrinker“ ist die letzte Buchveröffentlichung von Kemal Kurt. Kurz vor Vollendung eines historischen Kriminalromanes, der ihm auch zum längst verdienten Durchbruch bei der erwachsenen Leserschaft verhelfen sollte, ist er Ende Oktober einer Krebskrankheit erlegen.
Nachruf, Briefe und weitere Besprechungen zu Werken von Kemal Kurt siehe:
Büchernachlese-Extra: Kemal Kurt (1947 - 2002)