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Neujahr. Während die Eltern sich noch ausschlafen, wollen Oliver
und Timo zum Schlittschuhlaufen. Auf dem Weg dahin lernen sie einen seltsamen
alten Mann kennen. Der Mann ist ein "Meddah", ein Märchenerzähler,
der von Haus zu Haus geht, um türkische Märchen zu erzählen.
Sein Kaninchen Kartoupo fischt aus dem hölzernen Kasten vor seinem
Bauch ein Papierröllchen heraus, das entrollt den Titel einer Geschichte
nennt, und dann beginnt der Meddah: "Es war einmal, es war keinmal ..."
Anschließend bittet der Meddah, das gehörte Märchen möglichst
vielen weiterzuerzählen. Die Eltern wollen davon zwar zuerst gar nichts
wissen, den Freunden in der Schule aber gefällt das Märchen.
Als jedoch sechs Wochen vergangen sind, behauptet Kofi: "Alles erstunken
und erlogen. Es gibt keinen Meddah." Da taucht er endlich wieder auf
und kann Kofi und die anderen eines besseren belehren.
Der seit 1975 in Berlin lebende Autor Kemal Kurt erzählt in "Wenn
der Meddah kommt" die schönsten Märchen seiner Kindheit nach.
Ob ein Kunstmärchen, wie "Allem Kallem" von Nazim Hikmet oder
die Sage über den ungestümen Helden Deli Dumrul von Dede Korkut,
ob einfache Volksmärchen oder die Possen des Nasreddin Hodscha, einer
Art türkischem Till Eulenspiegel, und nicht zuletzt auch die Tekerleme
genannten Vormärchen, die mit ihrem phantastischen Unsinn auf die
eigentlichen Märchen einstimmen - alles wirkt wie aus einem Guß.
Mit der Freiheit des Märchenerzählers hat Kemal Kurt die Märchen
von überfälligen Ballast befreit und ihre Motive der besseren
Erzähldynamik wegen zum Teil neu kombiniert. So fügen sie sich
nun wunderbar in die von ihm erfundene Rahmengeschichte über den Meddah,
die Kinder und den sich stets bedeckt haltenden, geheimnisvollen Mann im
Hintergrund ein. Das Verteilen der Begegnungen mit dem Meddah über
ein ganzes Jahr nutzte der Autor zudem sehr geschickt, um über die
verschiedenen Bräuche und Feste in der vom Islam geprägten Türkei
zu berichten. Voller Witz und reich an Abenteuern, werden sich die Kinder
sicher auch sehr gut mit den Helden dieser Märchen identifizieren
können. Meist sind es selbst Kinder, die sich mit List und Zielstrebigkeit
sogar gegen scheinbar übermächtige Ungeheuer behaupten. Daß
diese Märchentradition auch ohne blutrünstige Rache auskommt,
zeigt nicht nur ein Märchen wie "Der Geduldstein", in dem eine
betrügerische Dienstmagd trotz ihrer unsäglichen Gemeinheiten
am Ende nicht bestraft wird. Und wenn in der Rahmengeschichte Nalan zum
Beispiel ihr heimisches Zuckerfest liebt, sich aber auch ganz selbstverständlich
auf ein Fahrrad zu Weihnachten freut, verweist das ohne Pathos auf die
bereits "real existierende" multikulturelle Vielfalt eines Berliner Klassenzimmers.
Zusammen mit den zahlreichen poetisch-witzigen Illustrationen von Ulrike
Mühlhoff bekräftigt diese Märchensammlung einmal mehr, daß
das Kennenlernen anderer Menschen aus anderen Ländern nicht bei den
kulinarischen Genüssen aufhören sollte.
Nachruf, Briefe und weitere Besprechungen zu Werken von Kemal Kurt siehe:
Büchernachlese-Extra: Kemal Kurt (1947 - 2002)