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Zwischen verkohltem Gestein und menschlichem Gebein macht sich ein Gebet
laut. In den letzten Stunden seines Lebens hatte Jossel Rakover im Warschauer
Ghetto ein klagendes Glaubensbekenntnis verfaßt, das die Nachwelt
trotz aller menschengewollten Zerstörung als Flaschenpost erreichen
sollte. Und daß diese Nachricht noch heute nachzulesen ist, scheint
wahrhaft gottgewollt, denn JOSSEL RAKOVERS WENDUNG ZU GOTT ist ein in seiner
Art einzigartiges Zeugnis des Glaubens, dessen letzterhaltene Erstveröffentlichung
aus dem Jahre 1946 vor kurzem nun tatsächlich nach einem Bombenanschlag
zwischen "verkohltem Gestein" vernichtet wurde. Wenn hierzulande
einige meinten, nach Auschwitz könne man kein Gedicht mehr schreiben,
so bietet ihnen die Figur des Jossel Rakover ein scharfes Paroli. Und so
kurz sein Gebet mit knapp 25 Seiten auch ist, entzieht es sich wegen seiner
immensen Dichte einer kurzen Zusammenfassung. Man möchte am liebsten
wenigstens die Hälfte einer jeden Seite zitieren, weil der Absatz
hier und der Gedankengang dort einen anstößt und zuweilen sogar
überwältigt. Womöglich übertrifft Jossels Klage sogar
das Buch Hiob, weil sie uns Nachgeborenen zeitlich näher und von daher
unmißverständlicher ist. In der Qual der Wahl hier nun wenigstens zwei Zitate daraus:
"Und noch etwas will ich Dir sagen: Du sollst den Strick nicht zu
sehr anspannen! Denn er könnte - Gott behüte - noch reißen.
Die Versuchung, in die Du uns geführt hast, ist so schwer, so unerträglich
schwer, daß Du denjenigen Deines Volkes vergeben sollst und mußt,
die sich in ihrem Unglück und Zorn von Dir abgewandt haben."
"Ich kann Dich nicht loben für die Taten, die Du duldest. Ich
segne und lobe Dich aber für Deine schiere Existenz, für Deine
schreckliche Größe. Wie gewaltig mußt sie sein, wenn sogar
das, was jetzt geschieht, auf Dich keinen Eindruck macht?"
Was heißt schon preiswert, angesichts eines solchen Textes, aber
dieses schmale Buch umfaßt neben der neu überarbeiteten
Übersetzung durch Paul Badde (auf den rechten Seiten) auch eine phonetische
Transkription des Jiddischen durch Arno Lustiger (auf den linken Seiten).
Da das Grundelement des Jiddischen mit gut 70% Anteilen das Deutsche ist,
hat die synoptische Lektüre, am besten laut gelesen, einen besonderen
Reiz: Das Eigenartige des Fremden und zugleich das der nahezu vernichteten
Nähe. Hinzu kommt der faksimilisierte Abdruck der nun verbrannten
Erstveröffentlichung: Der jiddische Text in hebräischen Buchstaben.
Und nicht zu vergessen: Die umfangreiche und fesselnde Enstehungs- und
Wirkungsgeschichte dieses Textes durch den Herausgeber Paul Badde. So wird
z.T. noch heute behauptet, Jossel Rakover sei keine fiktive Figur gewesen,
sondern hätte wirklich gelebt. Für den mittlerweile 76-jährigen
Autoren Zvi Kolitz eine höchst ambivalente Auszeichnung.