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DAS ECHOLOT ist zuerst einmal ein geheimnisvoll schön anzuschauender
Quader aus steifem grauen Karton, der oben und unten mit rotem Leinen bespannt
ist. Drei seiner Seiten sind schwarz und rot beschriftet, nennen den Titel
und Walter Kempowski. Eine Seite ist offen und verführt unwiderstehlich,
einen der vier dickleibigen Folianten herauszuziehen. Mit dem ersten Band
hat man nun ein Konvolut von Briefen und Tagebuchnotizen in Händen,
die alle nur eins gemeinsam haben: Sie sind in den Tagen vom 1.1.43 bis
17.1.43 verfaßt worden. Die anderen drei Bände erfassen dann
ebenfalls halbmonatsweise die Tage bis zum 28. Februar 1943. An einen Tagesbefehl
aus dem Führerhauptquartier reiht sich der Brief eines Soldaten von
der Ostfront, den brieflich fixierten Sorgen einer Gutsbesitzerin folgt
die heimlich im KZ verfaßte Tagebuchnotiz, einem Brief von "daheim"
an den Sohn im "Feld" der Auszug aus dem Tagebuch eines großbürgerlichen
Schriftstellers im Exil usw. usf. ...
Die zumeist privaten Lebenszeichen kommentieren bewußt oder unbewußt
u.a. die Kapitulation vor Stalingrad, den letzten militärischen Erfolg
Rommels in Nordafrika, die Inszenierung Göbbels' im Sportpalast ("Wollt
ihr den totalen Krieg?") sowie das mörderische Urteil Freislers
über die Geschwister Scholl.
Walter Kempowski ist nicht, wie man angesichts des Deckblattes meinen
könnte, der Autor, sondern der emsig geniale Herausgeber einer historischen
Momentbeschreibung von noch nie dagewesener Quantität. Die Qualität
dieser umfangreichen Textsammlung liegt in den Möglichkeiten der Leserschaft,
sich diese subtil gesetzten Mosaiksteine als eine Summe menschlich verschiedener,
sich z.T. diametral gegenüberstehender Wahrnehmungen und Lebensäußerungen
anzueignen. Kempowski wählte dafür den Begriff eines "babylonischen
Chorus". Tatsächlich leistet er mit DAS ECHOLOT nichts weniger
als eine durchkomponierte Zeugenschaft, vergleichbar den (allerdings über
Jahrhunderte hinweg) gesammelten Zeugnissen (Testamenten) in der Bibel.
"Diese Arbeit rief in mir die unterschiedlichsten Gefühle wach:
Verständnis und Verachtung, Ekel und Trauer. Zum Schluß, als
ich den großen Chor beisammen hatte und das Ganze auf mich wirken
ließ, stand ich plötzlich unter ihnen, und es überwog das,
was wir mit dem Wort "Liebe" nur unzulänglich bezeichnen können."
Wer einzelne Stimmen dieses Chores ausführlicher hören will,
der wird sicherlich in den von Kempowski sorgsam aufgelisteten Quellenangaben,
Archiven und Institutionen fündig werden. Eines allerdings entspricht
weder dem hohen Kaufpreis (298.-; später 348.-) noch der ansonsten
erlesenen Ausstattung dieses Werkes: Das Register der AutorInnen inklusive
ihrer biographischer Daten ist lediglich dem 4.Band angehängt. Die
Lektüre der ersten drei Bände wird dadurch im wahrsten Sinne
des Wortes um einiges erschwert, denn jeder Band wiegt knapp ein Kilo.
Dabei sollte dieses Werk unbedingt Verbreitung finden - und wenn es nur
als Anstoß diente, sich trotz Telefon wieder aufs Briefeschreiben
zu besinnen. Ein Kempowski des nächsten Jahrhunderts hätte zwar
eine größere Auswahl an professionell (von Ghostwritern) verfaßten
Erinnerungen, aber solch eine Auswahl an authentischen Darlegungen von
"Normalsterblichen" stände ihm für das Jahr 1993 sicher nicht
mehr zur Verfügung.
Weitere Besprechungen zu Werken von und über Walter Kempowski siehe:
Büchernachlese-Extra: Walter Kempowski (1929 - 2007)