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Ein zwölfjähriger Junge schreibt auf, wie es ist, nur mit einer inneren Stimme ausgestattet zu sein. Er beginnt seine Geschichte mit dem plötzlichen Verschwinden seines großen Bruders Kobi. Kobi hat sich auf eine jüdisch-ultraorthodoxe Sekte eingelassen und versucht bei seiner späteren Wiederkehr das Familienleben nach deren Regeln zu verändern. Weit schlimmer aber ist, dass Kobi, der bislang dem "Zurückgebliebenen" seine Bruderliebe sowieso nur in kleinster Dosierung zeigte, sich ihm nun völlig zu entziehen droht. Die Eltern dringen mit ihren Mahnungen bei dem Älteren nicht mehr durch und sind schon dabei, ihn aufzugeben. Aber der kleine Bruder, der nach außen hin keinen Laut von sich zu geben weiß und deshalb von den meisten unterschätzt wird, findet schließlich doch noch einen Weg, Kobi für sich und die Familie zurückzugewinnen.
Der israelische Autor und Verleger Avram Kantor legt mit "Die erste Stimme" beziehungsweise "Ich und mein Bruder - mein Bruder und ich" eine Erzählung vor, die einer geübten und sehr wohlwollenden Leserschaft bedarf. Herausforderungen sind hier jedoch weniger das Thema einer Bruderliebe und das religiöse Milieu in Israel, als die gewählte Ich-Perspektive des bis zuletzt namenlos bleibenden Erzählers. Der vermag nicht zu sprechen und bewahrt gegenüber seiner Familie bis zum Ende des Buches hin das Geheimnis, dass er sich das Lesen in einer Art Ganzwortmethode über das Schulespielen mit seiner ebenfalls älteren Schwester beigebracht hat und wenig später dank der Computertastatur seines Bruders auch die Fähigkeit zu schreiben. Die Eltern vermuten sehr lange, er sei ein Autist, was er für sich von vorneherein abstreitet - nach Anlage der Geschichte wohl auch zu Recht. Vielmehr handelt es sich bei seiner "Stummheit" wohl eher um eine im Vergleich zum Autismus mindere Kommunikationsstörung in Verbindung mit einer mehr oder weniger stark ausgeprägten "Sozialphobie". So schreibt er auch nicht nach Art eines Birger Sellin (Ich will kein Inmich mehr sein), sondern - übersetzt von Mirjam Pressler - in durchaus regelkonformer Gewandtheit. Allerdings unter dem Vorzeichen, trotz seiner Findigkeit dann doch einiges nicht zu wissen bzw. zu verstehen und vor allem dieses Unverständnis dann auch nicht selten zu wiederholen - gerade Letzteres wirkt womöglich nicht nur auf erwachsene Leser nervend redundant und angesichts der Schreibgewandtheit auch nicht in sich stimmig.
Seine Gründe für das Geheimhalten seiner Lese- und Schreibfertigkeiten, seine Verweigerungshaltung in der Schule und bei Ärzten sowie sein Vorstellen einer im Prinzip areligiös lebenden Familie in Israel, die plötzlich von der Frömmigkeit ihres ältesten Sohnes überrumpelt wird, sorgen zwar immer wieder für kurzweilige, weil situationskomische Verfremdungseffekte - einen wirklichen Sog entwickelt das Ganze aber erst ab dem letzten Drittel, als sich der Erzähler konkret daranmacht, den Kampf um seinen Bruder aufzunehmen. Dann wird es spannend, und am Ende ist man regelrecht gerührt, wenn auch nach wie vor nicht wirklich von der Erzählperspektive überzeugt.
Ein Ja-aber-Buch, das leider nur bedingt zu empfehlen ist.