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Kurz vor seinem Tod ließ sich Heinrich Albertz von Wolfgang Herles
interviewen. Zwischen dem 78-jährigen und dem renommierten Fernsehjournalisten
entwickelten sich Gespräche, die über das sonstige Frage- und
Antwortspiel beliebig austauschbarer Talk-shows hinausgingen. So wurden
in WIR DÜRFEN NICHT SCHWEIGEN vier Dialoge dokumentiert, die sich
trotz ihrer melancholischen Themen durchaus als vergnügliche Lektüre
erweisen.
"Herles: Mir kommt Kohl manchmal vor wie der berühmte Zauberlehrling
von Goethe. Die Geister, die er rief, wird er nicht mehr los.
Albertz: Na, der kann doch nichts dafür. Durch Gottes Zorn
haben wir diesen Kanzler jetzt, aber der kann doch nichts dafür, daß
diese Einheit zustande gekommen ist."
Aber auch wer Analysen in der Diktion eines allwissenden Helmut Schmidt
befürchtet, wird von H.A. angenehm enttäuscht: "Alle ehrlichen
Leute sind auch ratlos, und ich weiß nicht, ob es nicht das Klügste
wäre, jetzt möglichst wenig zu tun, wie bei einer Wunde, die
man erst mal ein bißchen abheilen läßt."
Altersweise und von erwiesen pragmatischer Redlichkeit meinte H.A.
damit keine Vogel-Strauß-Perspektive. Vielmehr ließ er einen
desillusionierenden Blick hinter die Kulissen unserer Parteien, insbesondere
der SPD, zu, oder er erklärte, warum ein Mann wie Stolpe derzeit unverzichtbar
ist, oder warum er "heimlich" am liebsten Potsdam zum Regierungssitz erwählt
hätte. Natürlich ging er auch auf jenes Spannungsverhältnis
ein, das daraus erwächst, wenn (nicht nur) ein Pastor in die Politik
geht, ..gehen muß!
Dieses Gespräch zwischen den Vertretern zweier Generationen lebte
von seiner Freiheit, scheinbar undiszpliniert zu assozieren. Es sondierte
dabei ein geschichtliches Terrain, das von der Jetztzeit bis zum "Alten
Fritz" reicht und auch vor dem eigenen Tod nicht haltmacht. WIR DÜRFEN
NICHT SCHWEIGEN ist auch deshalb mehr als eine belanglose Plauderei, weil
H.A. mit seinen von ihm eingeräumten (und konsequent verantworteten)
Fehlern einer der wenigen glaubwürdigen politischen Menschen war,
dem man seine Haltung, eine Mischung aus Zorn und Barmherzigkeit, abzunehmen
vermochte. Sein Kurs der Verständigung wollte nichts übertünchen,
sondern bezog eben die unterschiedlichen Positionen in ihrer Unterschiedlichkeit
mit ein. Ein Mensch also, der das Andere und Anderssein auszuhalten gelernt
hatte - einer, dem zuzuhören lohnte!