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Büchernachlese-Extra: Walter Kempowski

Dirk Hempel

Walter Kempowski

Eine bürgerliche Biographie. btb Verlag, München 2004. 302 Seiten. 9,50 Euro. ISBN: 3-442-73208-5, >>> Amazon
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In zehn Kapiteln dekliniert Dirk Hempel sehr eingängig die Lebens- und Antriebsgeschichte von Walter Kempowski durch, und bereits die als Überschriften gesetzten Schlagwörter spiegeln in ihrer prägnanten Kürze die archivarischen Neigungen des Umschriebenen: Einzelhaft, Herkunft, Einflüsse, Verweigerung, Bautzen, Neubeginn, Aufstieg, Schriftsteller, Erweiterungen, Erfüllung.
"Einzelhaft" bezeugt auf 3 ½ Seiten den Anstoß zu Kempowskis schriftstellerischer Besessenheit, eine Ouvertüre, die bis zum Kapitel "Bautzen" seine biographische Unterfütterung erfährt, um schließlich in den fünf nachfolgenden seine "Erfüllung" zu finden.
Biographien können gar nicht objektiv, das zu erörternde Subjekt kann seinem Betrachter nicht egal sein - aber Dirk Hempel erweist Walter Kempowski, dem er bereits als langjähriger Mitarbeiter u.a. beim Echolot-Projekt diente, mit seiner Biographie gewiss alles andere als einen Bärendienst.
Das Umstrittensein Kempowskis benennt er quellensauber und führt es detailliert aus - und setzt es so plausibel wie glaubwürdig ins rechte Licht. Diese Biographie ist insofern ein wichtiger Teil der "Erfüllung", da es ihr gelingt, Kempowskis zuweilen spröde Selbstgewissheit in den weiten Bogen geschichtlicher bzw. politisch links-rechts determinierter Spannungsfelder, privater Motive und nicht zuletzt gar nicht so sehr an den Rand literatur- bzw. medienbetrieblicher Allianzen und Gegnerschaften einzuordnen. In einer Sonderstellung.
Einer, der neben seiner "emsigen" Schriftstellerei bis zur Pensionierung als einfühlsam engagierter Zwergschullehrer und Uni-Lehrbeauftragter gearbeitet hat und trotz Welterfolge und hoher Auflagenzahlen keinem Mainstream angehörte - noch nicht einmal bzw. schon gar nicht dem intellektuellem Minderheitenmainstream. Einer, der aus seinem eigenen Leid in Bautzen schöpfte, und das vor Kritikern, deren größtes Versäumnis es war, nicht die ihn bis heute verfolgenden Schuldgefühle und das entschieden politisch korrekte Geschichtsbewusstsein dahinter auszumachen: Ganz persönlich leidet er noch heute an der Verurteilung seiner Mutter, die gleich ihm wegen seiner jugendlichen "Heldentaten" kurz nach dem Krieg ein langjähriges Straflager auszuhalten hatte - aber darüber hinaus war es auch stets die Frage, wie sehr gerade die gepflegt bornierte Harmlosigkeit seiner bildungs-bürgerlichen Herkunftsklasse die "Hitlerei" und daraus resultierendes millionenfaches Morden ermöglicht hat. Und seine schriftstellerischen Mittel verkürzten sich eben nicht auf wohlfeil kommentierende Vorverurteilung, sondern nutzten Zeugnisse für sich selbst stehender, durchaus grauenerregender Zitate. Und natürlich hat er den Mord an den Juden ebenso verdammt wie alle anderen - aber dieses Morden war eben nicht sein vorrangiges Thema.

"In der 'Deutschen Chronik' hatte Walter Kempowski ein großes Tableau deutscher Zeit- und Sozialgeschichte von 1885 bis 1960 als Familiengeschichte, als Geschichte der eigenen Familie exemplarisch inszeniert - ein beispielloses Unternehmen in der deutschen Nachkriegsliteratur."

Was Kempowskis für viele prominente und debütierende Schriftsteller offenes Haus angeht, habe er laut Peter Rühmkorf alles verwirklicht, was er "und andere in ihren eigenen Kreisen immer nur diskutiert hätten, als 'Lebensschule' etwa oder 'SYMPATHEUM'."
Wenn Kempowski als Fan von Arno Schmidt allerdings z.B. Bölls und Grass' Werke nur bedingt oder gar nicht anzuerkennen mag, dann schlägt er z.T. auf denselben Tasten der Kritikasterklaviatur, der er sich zu Recht und leider erst in den letzten Jahren mit Erfolg zu erwehren gesucht hat. Sein radikal demokratischer Ansatz der "Vielstimmigkeit", dem er schon in seinen Chronik-Romanen, nicht zuletzt aber auch im "Echolot" Gehör verschafft hat, hätte auch diese Autoren als akzeptablen Teil davon gelten lassen lernen müssen. Aber offenbar waren die beigebrachten Verletzungen eines gewissen Zirkels tatsächlich größer als Kempowskis keineswegs geringe Eitelkeit, so dass man hierfür Verständnis aufbringen muss.
So meint der Lektor Rudi Deuble nach der Lektüre von "Alkor" voller Verständnis: "Es gibt ja eine schreckliche linke Ignoranz, und zwar durchgängig, auch bei Linksliberalen, eine furchtbare Resistenz gegen alle rationalen Einwände."
Nun formulierte Kempowski aber gerade in diesem Alkor-Tagebuch von 1989 alles andere als durchgehend rational, sondern schwankte zwischen brillanten Kommentaren und einem kaum erträglichen "Siehste, hab ich doch gewusst"-Gestus …
Wie auch immer: Hempel leistet hier en passent einen sehr erhellenden Einblick auf Verlags- und Autorenseilschaften der letzten Jahrzehnte, und wer wie und warum zu Ehrungen und Preisen kam - oder auch nicht.
Kurz vor Vollendung seines 75. Lebensjahres wird Walter Kempowski anerkannt und - für ihn besonders erfreulich - auch von jungen Autoren und Autorinnen entdeckt und als Vorbild gewürdigt. Bleibt nur, ihm von hier aus noch mehr Gelassenheit für die nächsten Jahre und der Biographie von Hempel eine große Verbreitung zu wünschen.

Weitere Besprechungen zu Werken von und über Walter Kempowski siehe:
Büchernachlese-Extra: Walter Kempowski (1929 - 2007)

Buechernachlese © Ulrich Karger


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