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Für Ben wird 1974 das Jahr, das ihm eigene und Widersprüche anderer offenbart, ohne großartig daran leiden zu müssen. Als noch nicht ganz 15-jähriger ist der Radius klein, innerhalb dessen er sich in einem Nest wie Lippfeld bewegen kann oder zu bewegen hat. Im Gymnasium sortieren sich die Mitschüler danach, inwieweit sie einen abschreiben lassen. Das Gros der Lehrkräfte ist bis auf eine bestenfalls skurril. Die wesentlichen Dinge werden mit einer Clique ganz anderer Zusammensetzung am Schwanenteich besprochen. Dort qualmen die Zigaretten und, solange der mitgebrachte Vorrat reicht, wird angestoßen mit Bierflaschen oder anderen billigen Alkoholika auf richtige Musik und Fundamentalkritik an Erwachsenen und allem, was sich den Jugendlichen entgegenstellt. Neben Hendrix, Lennon und Dylan zieht hier ein Newcomer, wie die seit ihrem Gewinn des Grand Prix Eurovision de la Chanson schlagartig weltberühmt gewordene Band ABBA, nur Gelächter auf sich. Doch Bens Gedanken kreisen vor allem um die ein Jahr jüngere Susanna, die u.a. Platten von ABBA und - noch schlimmer - vom Schlagersänger Christian Anders im Regal stehen hat. Susanna nahe zu sein und sie eines Tages vielleicht sogar zu küssen, setzt einen ganz besonderen Schwerpunkt in Bens Traum- und Gedankenwelt …
Mit "Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde" legt Andreas Heidtmann, Begründer und Herausgeber vom poetenladen, ein bemerkenswertes Romandebüt vor.
Entwicklungsromane werden in jüngerer Zeit meist mit Jugendromanen gleichgesetzt, in denen eine Hauptfigur meist idealtypisch einen Rollenwechsel vollzieht oder zumindest sich (wie auch die Leserschaft) am Ende ermutigt sieht, einen positiven Schritt zu gehen.
Damit hat Heidtmanns Ben so gut wie gar nichts am Hut. Trotz seiner Arbeitsteilung, was die Hausaufgaben angeht, kommt er in der Schule gut mit. Seine Eltern sondern zwar für jene Zeit generationengemäß nicht selten Plattitüden ab, aber Ben weiß sich von ihnen mehr als ausreichend gesehen, unterstützt und geliebt. Auch die Höhe seines Taschengelds ist für ihn kein Thema, für seine geliebten Packungen "Camel" reicht es allemal. Ja mehr noch, selbst mit dem älteren Bruder, der Soziologie (sic!) studiert, hat Ben ein gutes Verhältnis und liest in dessen bei ihm verbliebenen Büchern. Innerhalb seiner Peergruppen schwimmt er ohne weitere Reibungen mit, setzt da weder herausragend positive noch negative Akzente. Von den Gleichaltrigen kaum registriert, wird ihn sein häusliches Klavierspiel von klassischer Musik ans Konservatorium in Köln führen, aber auch das ohne besondere Anstrengung oder gar Aufregung, ist er doch mit dem absoluten Gehör begabt.
Also, wie gesagt, kein auf eine dramatische Fallhöhe angelegter und um detailgenaue Authentizität bemühter Jugendroman, sondern ein Roman über eine Jugendzeit in wohlgesetzter, ja durchrhythmisiert wohlklingender Sprachregelung. Sie feiert den Rückblick eines Autors, Jahrgang 1961, auf die Langeweile eines Jugendlichen in einem kleinen Nest als Entschleunigung und einer damit verbundenen Konzentration auf innere Erlebniswelten. Leser ähnlicher Jahrgänge werden sich gern davon mitnehmen lassen, unterläuft Heidtmann doch damit zum einen das Stereotyp einer Jugendzeit als Synonym für eine Leidenszeit, und setzt stattdessen auf eine feine, ohne Sarkasmus unterlegte Ironie. Nicht zuletzt Bens Dialoge mit Susanna, die bereits weit selbstbewusster und zielstrebiger als er wirkt, lassen sogar an Tucholskys Rheinsberg - Ein Bilderbuch für Verliebte gemahnen - was 14-, 15-jährigen wohl eher nicht zuzutrauen wäre. Das setzt sich im gleichen Tonfall auch in Bens Tagebucheinträgen darüber fort. In ihnen schreibt er zudem über Jan-Henri, einen von ihm bestenfalls am Rande wahrgenommenen Klassenkameraden, der schon häufiger wegen einer unheilbaren Krankheit in der Schule gefehlt hatte und an ihr dann auch gestorben ist. Jan-Henri hat Ben nach seinem Tod mit einem sehr klarsichtigen Brief überrascht, der Ben bedauern lässt, ihn nicht näher kennengelernt zu haben. Der Brief wird ihm zum pointiert gesetzten Auslöser für melancholische Betrachtungen über sich und die eigenen Begrenzungen. Das offene Ende des Romans belässt Ben eine Menge Möglichkeiten, die ihn mit großer Wahrscheinlichkeit auch einen guten Weg gehen lassen werden.
Heidtmann ist mit seinem Roman ein starkes Stück Literatur gelungen, dass dem Meer nur allzu berechtigter Überlebensgeschichten von Jugendlichen jener vordigitalen Zeit einen überraschend schönen Kontrapunkt entgegensetzt - und damit das Sujet, wenn schon nicht vervollkommnet, so doch sehr reizvoll erweitert.