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Während der Zeit vom 13.12.2001 bis 5.3.2003 dokumentiert Peter Härtling seine Erinnerungen, genauer gesagt, lässt seine "alten Ichs" an sich herankommen, die ihm öfter fremd als nah zu sein scheinen. Wie mit dickem Haarpinsel auf nasses, die Farben verlaufen lassendes Papier getupft, entstehen oft atmosphärisch dichte Zeitbilder, die jedoch, je mehr sich Härtling von der Kindheit entfernt, umso konturloser wirken.
Das erste Drittel, die Jahre bis zu der nicht vollendeten Abiturklasse und den ersten Schreibübungen sind am aufschlussreichsten, spiegeln u.a. auch seine "Nachgetragene Liebe", dann aber wird es zu einem Murmeln unter gleichaltrigen Enthusiasten, die ohne weitere oder nur sehr knappe Erläuterung mit Zeitschriften wie der "Monat" oder Dichtern wie Heißenbüttel und Poethen etwas anfangen können. Was beim profunden Kenner jener Zeiten sofort einiges zum Klingen bringt, lässt für andere die diversen Ichs in zueinander nicht in Spannung gebrachten Anekdoten verschwimmen. So bleibt ein Sessel nachhaltiger in Erinnerung als Frau und Kinder, obwohl von deren eminenter Wichtigkeit immer wieder die Rede ist. Scheinbar ohne Reibungsverluste tupft sich das Schreiben, die Lektoratsarbeit, das Zwischendurchlesen eines schier hypertrophen Kanons, die Reisen, die Verbände, die Berliner Akademie, die Preisverleihungen, das alles unter einen Hut bringen mit der Familie zu dem elegischen Bild eines 50er und 60er Jahre Arkadiens, wo sich das Who's Who der Literatur immer wieder in Cafés oder sonst wo die Hand gibt, zusammen trinkt, fortan in fruchtbaren Dialog miteinander tritt, zusammen in gut honorierenden Literaturzeitschriften veröffentlicht und sich alsbald Auto und TV leisten kann.
"Leben lernen" ist ein eigentümlich widerspenstiges, der Erwartungshaltung an den bald Siebzigjährigen zuwiderlaufendes Buch, verspricht der Titel doch auch eine Entwicklungsgeschichte. Zwar folgt dieses mal mäandernd, mal spiralförmige Kreisen um sich selbst dem gesetzten Schwerpunkt einer Chronologie von der Kindheit bis in die 70er Jahre, aber Härtling baut paradoxerweise keinen sich auf ein Fazit zuspitzenden Bogen auf. Und seltsam: In dem Nebeneinander der Jahrzehnte fällt ihm scheinbar alles zu, ohne etwas lernen zu müssen. Bemerkenswert auch, dass er, der in sich außergewöhnlich viele Aspekte eines Literaturschaffenden vereinigt, sich zuallererst als Lyriker, dann als (Chef-)Lektor, Romanautor und nur in einer Nebenbemerkung auch noch als Kinderbuchautor ausweist.
Zum Schluss werden die letzten 30 Jahre auf nur 20 Seiten abgeklappert und fransen altersmüde aus. Sorgen macht hier vor allem der letzte Absatz mit der Bemerkung: "Es treten auch Schmerzen auf, die ich vorher nicht kannte. Sie gehören dem Ich, das ich noch werde."
Nach einem längeren, Anfang Juni überstandenen Krankenhausaufenthalt scheint dieses künftige Ich, Gott sei Dank, erst mal abgewehrt zu sein. Neben den Genesungswünschen sei deshalb auch der Wunsch nach einem zweiten Teil erlaubt, der uns dank neu gewonnenem Lebensmut vielleicht weniger lyrisch, sondern mehr mit seinen Qualitäten als Roman- und Kinderbuchautor sein Erinnern zugänglich macht.
Weitere Besprechungen zu Werken von und über Peter Härtling siehe:
Büchernachlese-Extra: Peter Härtling