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Die 17-jährige Henia wird von der Mutter zur Untersuchung
gebracht. Sie weist physische Anomalien auf, die sie in der Welt des ultra-orthodoxen
Judentums als heiratsunfähig brandmarken. Henia einmal vernünftig
zu untersuchen und gegebenenfalls zu behandeln, wird für die Gynäkologin
Jo'ella zur fixen Idee. Warum ihr gerade das Schicksal von Henia so nahegeht,
versteht sie selbst nicht. Ein an sich harmloser Verkehrsunfall, der weniger
das Auto als womöglich ihre Ehe angetastet hat, verunsichert Jo'ella
noch mehr. Dem Unfallgegner Jo'el scheint es nämlich bei der 43-jährigen
nachgerade zu gelingen, ihre Routine im Umgang mit Gefühlen ins Wanken
zu bringen. Den Höhepunkt setzt kurze Zeit später schließlich
ein Kollege im Krankenhaus, der Jo'ella nach einer vermeidbaren Todgeburt
erst verständnisvoll Unterstützung anbietet, nur um sie dann
in der Konferenz erbarmungslos an den Pranger zu stellen.
Die israelische Autorin Batya Gur ist hierzulande bereits mit zweien
ihrer hervorragenden Kriminalromane bekannt geworden (beide Goldmann Verlag
München). Neben der Beherrschung kriminalistischer Effekte waren es
insbesondere ihre Ausdrucksmöglichkeiten für die Spiegelung des
aktuellen Israel, die für Begeisterung sorgten. In ihrem neuen Buch
hat die Autorin nun die Beschränkung des Genres verlassen und dafür
mehr Raum für die Introspektive gewonnen. Was sich in der Einleitung
wie das Strickmuster für einen "Arztroman" liest, sind lediglich die
Stützpfeiler für ein engmaschig gewobenes Netz um das Planen
eigener Lebenswirklichkeiten, die wiederum umgeben sind von Plänen
mit zum Teil völlig anderen Lebenswirklichkeiten und Wahrheiten. Die
gynäkologische Abteilung des Krankenhauses wird zum Ausgangspunkt
für die Fragen nach Kindern und (eigener) Kindheit in Israel - und
Kinder sind ja letztlich auch ein Synonym für Zukunft.
Der Titel "SO HABE ICH ES MIR NICHT VORGESTELLT" ist der Stoßseufzer einer von
der Anstrengung überraschten Gebärenden, den Batya Gur (einmal
mehr kongenial übersetzt von Mirjam Pressler) in eindrucksvollen Bildern
zu entfalten weiß. Dank eines schlüssigen und mitreißenden
Erzählbogens findet sie ins Mark treffende Worte für die Zwischentöne
und Grauzonen menschlichen Daseins.
Weitere Besprechungen zu Werken von Batya Gur siehe:
Büchernachlese-Extra: Batya Gur