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Paul Pokriefke, der sich aus allem heraushalten und möglichst unauffällig bleiben will, wird als Ghostwriter angestellt, um seine Geschichte oder vielmehr die seiner Familie zu erzählen. Seinen bemerkenswerten Anteil daran sieht er eigentlich nur in den besonderen Umständen seiner Geburt, hält er doch schon seit langem Distanz zur Mutter sowie zur geschiedenen Frau und dem gemeinsamen Kind Konrad. Paul wurde am 30. Januar 1945 auf dem ehemaligen KdF-Schiff 'Wilhelm Gustloff' geboren, genau zu der Stunde als es von drei Torpedotreffern mit mehreren Tausend Flüchtlingen an Bord zum Sinken gebracht wurde. Für seine damals 17-jährige Mutter wird dieses Ereignis zur lebensbestimmenden Marke, und ihre Affinität zu dem Schiff wie zu dessen Namenspatron bleibt auch als Tischlermeisterin in der DDR ungebrochen. Was der Sohn in taubstumpfer Abwehr überspringt, macht später umso mehr Eindruck auf den Enkel Konrad, der alsbald im Internet eine www.blutzeuge.de-Domain eröffnet.
Günter Grass hat mit 'Im Krebsgang' eine Novelle hingelegt, die in ihrer brillanten Durchführung ihresgleichen sucht.
Die defensive Anlage seines Ich-Erzählers Paul Pokriefke entwickelt genau jenen lakonischen Ton, der fern jedes Belehrsamkeitsverdachtes steht und somit punktgenau 'einfach' erzählen kann, was Sache war und ist. Nur eben nicht geradlinig, sondern 'nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen'. Zu Recht darauf spekulierend, dass 216 Seiten kaum einen überfordern dürften, holt Grass gut die Hälfte davon Anlauf, schildert detailgenau die Werdegänge des Schiffspatrons, dessen Attentäters und nicht zuletzt auch vom Schiff. Wohldosierter Aberwitz samt zahlreicher Danziger Dialekteinsprengsel ziehen wirkungsvoll einen Spannungsbogen an, der links-rechts-gut-böse-Schemata angesichts der im Einzelnen wie in Summen durchdeklinierten Todesfälle schon bald ins Ungültige aufbricht. Diese Erzählweise führt schließlich über gleich mehrfach verschachtelte doppelte Böden, in die man dann verblüfft - manch Kritikaster womöglich auch enttäuscht - hineinfällt und somit den letzten Kapiteln gewiß nicht mehr entkommt. Die mysteriöse Kabbala zufällig übereinstimmender Jahres- und Geburtsdaten, selbst die Ereignisse auf und um die 'Wilhelm Gustloff' bilden jetzt nur noch den Hintergrund einer neuen Ungeheuerlichkeit, die wiederum nicht lösbare Schuldfragen aufwirft und eine weitere Narbe in ein generationenübergreifend desaströses Beziehungsgeflecht schlägt.
Ohne nun die Volten und das schwarzhumorige Vergnügen daran vorwegzunehmen, sei nur noch angemerkt, dass Grass hier ohne Koketterie aber mit umso mehr Selbstironie den anarchischen Gestus eines Oskar Matzerath ins Heutige verzwirbelt. Ein erstaunlicher, wahrhaft gelungener Sprung über den eigenen preisgekrönten Schatten!
Weitere Besprechungen zu Werken von Günter Grass und Sekundärliteratur dazu siehe:
Büchernachlese-Extra: Günter Grass