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Büchernachlese-Extra: Günter Grass

Günter Grass

Gespräche 1958-2015

Ausgewählt und mit einem Nachwort von Timm Niklas Pietsch. Steidl Verlag, Göttingen 2019. 896 Seiten. 38,00 Euro. ISBN: 978-3-95829-585-8, >>> Amazon
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Für "Gespräche 1958-2015" hat der Herausgeber Timm Niklas Pietsch 53 Interviews und Dialogrunden mit Günter Grass ausgewählt und mit einem Nachwort versehen. Ihre Erstveröffentlichung hatten diese Gespräche in Zeitungen, Zeitschriften, im Rundfunk und im Fernsehen.
Zusammen mit Nachwort, Bibliographischen Nachweisen und Personenregister ergibt das einen knapp 900 Seiten starken und in Leinen gebundenen Buchblock, dem auch noch ein Lesebändchen gut zu Gesicht gestanden hätte.
Das in seiner editorischen Notiz (s. S. 895) erläuterte Ziel des Herausgebers war es, aus über 250 gesichteten Vorlagen möglichst sämtliche literarische, bildkünstlerische und politische Schaffensphasen sowie wegweisende Debatten und Diskurse, an denen Günter Grass beteiligt war, in mindestens einem der 53 ausgewählten Gespräche wiederzugeben.
Das Ziel dürfte er im Großen und Ganzen erreicht haben - und mehr als das.
Von vorne nach hinten gelesen, spiegelt das Buch neben den Aussagen von Günter Grass zur eigenen Person, ein Zeitpanorama, das die einst brisanten Tagesgespräche über Auseinandersetzungen innerhalb des geteilten Nachkriegsdeutschlands, über Bau und Fall der Mauer bis in die jüngste Gegenwart wieder in Erinnerung ruft und dabei auch immer wieder das internationale und interkontinentale Weltgeschehen miteinbezogen hat. Denn Günter Grass verstand sich ja keineswegs nur als auf verschiedenen und eng miteinander verknüpften Feldern als Künstler, sondern auch als politisch denkender wie auch sich einmischender "Bürger".
Egal, ob Grass sich über sich und seine Werke oder über Politisches geäußert hat, und egal, in welchem Format er sich äußerte, er tat es druckreif und, trotz kriegsbedingter und nachkriegsbedingter Einschränkungen, von Anfang an mit dem Nachweis umfangreicher Belesenheit und bemerkenswerter Durchdringung des Gelesenen.
Ebenso bemerkenswert ist, wie er aus den Fragen allmählich auch über die Jahre konsistente Bausteine für Antworten generierte, die dann seine Tätigkeit als Wahlhelfer für die SPD, das Nach- und Miteinander von Schreiben, Zeichnen, Bildhauern und Modellieren oder auch seine Vorstellungen eines "dritten Weges" für die deutsche Einheit unterstrichen bzw. unterstreichen mussten, da die Gesprächspartner das auch immer wieder abfragten. Da gab es nirgends eine unbeabsichtigte Abweichung bzw. wenn Abweichung, dann als eine von ihm bewusst neu formulierte Einsicht oder Erkenntnis.
Und in vielem, was er schon früher als manch anderer kritisierte, z.B. das Fehlen einer ernsthaften Umweltpolitik, kann ihm im Rückblick Recht gegeben werden. Sprach Grass über andere Personen, seien es Kritiker oder Kollegen, war das in der Regel von einem "jeder nach seiner Facon" und oft, u.a. bei dem als schwierig geltenden Uwe Johnson, auch von viel Verständnis geprägt. Und daneben zeigte er sich enttäuscht, wenn Kritiker in seinen Augen nicht anhand eines zu besprechenden Titels sachgerecht ihr Handwerk versahen, sondern ihn persönlich treffen wollten - was insbesondere - aber nicht nur - für seinen Roman "Das weite Feld" wohl auch nicht von der Hand zu weisen war. Ganz anders dagegen die internationale Rezeption, die seinen Weltruf begründete und ihm nach eigenen Aussagen insgesamt und durchgängig weit mehr Respekt und Anerkennung zugestand.
Interessant, aber auch bedauernswert, sind einige Auslassungen in diesem deshalb ohne Not ein wenig hagiographisch wirkenden Buch.
So kippte der trotz aller verständlichen Enttäuschungen souveräne Umgang mit Kritik von Günter Grass spätestens nach Erscheinen seines Beim Häuten der Zwiebel (2006) ins Larmoyante, was sich u.a. in dem darauf folgenden Gedichtband Dummer August und diesen Band bewerbenden Interviews niederschlug - davon hätte doch wenigstens eines exemplarisch aufgenommen werden können.
Und außer seinen Einlassungen dazu in einem seiner ganz frühen Interviews, ein Hitlerjunge gewesen zu sein, ist nur noch das Interview mit Frank Schirrmacher von 2006 nachzulesen, in dem er bereits kurz vor Erscheinen des Romans seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS eingeräumt hatte, sowie nach einem Zeitsprung ins Jahr 2009 einige weitere Gespräche, in denen er darauf noch einmal angesprochen, dann schnell abschweifend wurde.
Dabei gab es am 12. August 2008 ja auch ein von Stephan Lohr für NDR-kultur geführtes "Interview mit Günter Grass", in dem Grass sehr ruhig und angemessen sachlich u.a auch auf die Kritik des späten Zeitpunkts seiner Einlassung in "Beim Häuten der Zwiebel" einzugehen vermochte.
Und schon Jahre davor am 21. Dezember 2003 führte Wulf Segebrecht mit ihm ein Interview in der FAZ ("Wir waren keine Hellseher"), in dem er sich eindeutig vor den wegen seiner nicht selbst bekundeten NSDAP-Mitgliedschaft bedrängten Walter Jens stellte und von seiner eigenen Scham sprach, weil er u.a. als 14-, 15-jähriger nicht nach dem erschossenen Cousin seiner Mutter gefragt hatte, aber auf die Frage, ob auch von ihm noch eine NSDAP-Karteikarte gefunden werden könnte, antwortete: "Ich glaube, man konnte erst mit achtzehn überhaupt in die NSDAP eintreten …" Daraufhin erwähnt Segebrecht die womöglich "geschlossenen Überführungen der Hitlerjugend in die Partei". Dazu Grass: "Ja, sicher, wenn das auf mich zukäme, ist das durchaus möglich und wahrscheinlich auch. Also, ich kann mich nicht daran erinnern, dem widersprochen zu haben."
Eine wirklich nur sehr knapp verpasste Chance von Günter Grass, die hier ebenfalls zu dokumentieren gewesen wäre. Jedenfalls hätte dieser Themenkomplex durchaus noch 12 bis 24 zusätzliche Seiten verdient. Vielleicht bedarf es aber noch einiger Jahre, bis sich dann vielleicht Dissertationen damit auseinandersetzen, u.a. die Kohärenz und Konsistenz der Selbstwahrnehmung von Günter Grass im Spiegelbild der Rezeption von außen zu untersuchen.
Andererseits zeigt die Auswahl der Gespräche, dass sich Günter Grass in seinen letzten Jahre nicht nur in Tiraden, sondern sich auch nach wie vor anders zu anderen Themen äußerte und in einem der letzten mit André Müller (Juli 2009) mit nicht wenig Humor und Selbstironie in seiner Sorge um den Interviewpartner zu glänzen vermochte.
Insgesamt wird mit seinen Gesprächen, ungeachtet der angesprochenen Auslassungen, hier eine lohnende, auch weil sehr unterhaltsame Rückschau auf einen Schriftsteller, Künstler und meinungsstarken "Bürger" geboten, der sich bei aller berechtigten Kritik ausdauernd und in vielerlei Hinsicht verdient gemacht hat, wofür ihm auch völlig zu Recht höchste Ehrungen und Auszeichnungen zuteil wurden.

Weitere Besprechungen zu Werken von Günter Grass und Sekundärliteratur dazu siehe:
Büchernachlese-Extra: Günter Grass

Buechernachlese © Ulrich Karger


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