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"Der kalte Krieg endete mit der Niederlage Rußlands, und es
stellt sich jetzt die Frage nach den Friedensbedingungen. Gerade die deutsche
Niederlagenerfahrung nach dem I. Weltkrieg zeigte, daß nichts so
töricht und gefährlich sein kann wie ein schlechter Friede."
Joschka Fischer entwickelt in seinem neuen Buch RISIKO DEUTSCHLAND
einen bedenkenswerten Forderungskatalog an die deutsche Politik, wonach
sie ihre künftigen Interessen auf nachfolgende Punkte zu richten hätte:
die Absage an jede deutsche Renationalisierung bzw. das Festhalten an der
inneren und äußeren Westintegration Deutschlands; die Kontinuität
des Atlantismus; die Vertiefung der europäischen Integration im Westen,
gründend auf der engen deutsch-französischen Freundschaft; die
Erweiterung der europäischen Integration nach Osten; die Unterstützung
Rußlands auf seinem Weg in eine friedliche, demokratische, marktwirtschaftliche
Zukunft; ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem.
Vor diese Forderungen legt J.F. ein nicht zuletzt im Anhang mit 352
Anmerkungen belegtes Geschichtsbild offen, das in der Analyse durchaus
auch konservative Historiker zu Wort kommen läßt, um diese dann
allerdings in ihren Schlußfolgerungen überzeugend zu widerlegen
bzw. zu entlarven. Wenn J.F. also "die Kraft zu einem historisch denkenden
'Konservatismus' der Bundesrepublik Deutschland" fordert, dann muß
das natürlich im Hinblick auf den vorgegebenen Kontext hinterfragt
werden. Die "nur" 50 Seiten für den Blick in die Zukunft stehen danach
auf festem Fundament und dürften selbst von den ärgsten politischen
Gegnern (auch aus dem eigenen Lager) nicht so einfach vom Tisch gewischt
werden können - sofern diese des Lesens mächtig und willens sind.
Seine Vision, sein Credo, sein "Muß" für Deutschland liegt in
der Einbindung an Europa. Allerdings: "Die vollendete Europäische
Union wird es nicht als ein bürokratisches Projekt geben, sondern
nur als ein demokratisches."
Diese Aussage benennt und erkennt zweierlei. Zum einen die notwendige
Implikation von Demokratie, die das Finden von Kompromissen meint, zum
anderen sollen Kompromisse aber nicht (wie bisher) um jeden Preis gefunden
werden bzw. anstelle des kleinsten den niedrigsten, "lauen" Nenner
suchen. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang dann auch einige seiner
Aussagen über Deutschlands künftig anzustrebende Außen-
und Verteidigungspolitik:
"Deutschland sollte sich weder zu einer weltpolitischen Rolle überreden
noch gar zwingen lassen, denn seine Interessen sind europäisch begrenzt.
Dabei gibt es nur eine Ausnahme, und das ist Israel ..."
"Statt einem eigenständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat sollte
Deutschland deshalb eine Europäisierung der britischen und französischen
Sitze anstreben, dies läge in der Logik einer deutschen Politik des
'Europa zuerst'."
"Kurz: Europa hat weltpolitische Interessen, nicht Deutschland."
Literarisch hat das Buch einen Nachteil: J.F. schreibt wie er spricht.
Während das letztere so manch dünn daherbretternden TV-talkshow
aufwertet, wirkt es geschrieben barock überladen. So fordert es z. T.
unötige Geduld, wenn Fischers Wortkaskaden in engen Spiralen um einzelne
Punkte kreisen, die sich dem gutwilligen Leser längst erschlossen
haben. Aber vielleicht wirft diese Technik auf Fischers Gang durch die
Institutionen ja dereinst auch noch einen Dr. h. c. ab ...
Inhaltlich jedoch setzt J.F. mit diesem Buch Glanzlichter dank seiner
eindeutigen und zugleich differenzierenden Positionen sowie des bislang
selten dokumentierten Mutes heutiger Politiker, über die nächste
Wahl hinaus vorzudenken, indem sie erstmal nach-denken.