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"Eine wichtige Anmerkung wegen der leichten Erreichung des Gehorsams
ist diese, daß die Kinder alles Verbotene ohne Zweideutigkeit
richtig als verboten kennen. Nichts führt zu einem so erbitternden
Unwillen als Unwissenheit, die als Fehler gestraft wird.
Wer die Unschuld straft, der verliert das Herz!" - so JOHANN
HEINRICH PESTALOZZI in der zum 200. Geburtstag erschienenen Biographie
von Stephan Hirzel. Trotz seiner Einsicht wurde dem
RETTER DER ARMEN, dem PREDIGER DES VOLKES und dem VATER DER
WAISEN (Zitat aus P.'s Grabinschrift) in der ersten Hälfte seines
Lebens (1746-1827) zumeist nur Spott und Unverständnis entgegengebracht.
Ein Vierteljahrhundert nach Hirzels Würdigung unternimmt
wieder einer den Anlauf, dem Namenspatron vieler
Schulen, Heime und Kindergärten "gerecht" zu werden. Gerhard Eikenbusch hat aber keine Biographie, sondern einen Roman verfaßt,
dessen inhaltlicher Rahmen in erster Linie der Psycho-Logik
dieses Lebenslaufes nachgeht. Was war Ursache und Antrieb für
P's idealistischen Eifer? Etwa Selbstlosigkeit? Ja und nein!
WIE EINE FEDER IM FLUG setzt 1749, also beim 3-jährigen
Johann Heinrich und dem noch lebenden Vater ein. Jahreszahl
für Jahreszahl werden die Umstände einer relativ
"privilegierten" Kindheit vorgeführt, d.h. nach
dem Tod des ständig arbeitslosen Vaters ermöglicht
die Mutter unter großen Entbehrungen dem Sohn sogar den Besuch
einer Lateinschule, die er aber vorzeitig abbricht.
Heinrich hätte Pfarrer werden können, aber er hatte Größeres
vor Augen. Jedoch alles, was er anfängt und wozu er Gelder und Kredite
seiner Freunde und zuletzt sogar das ausgezahlte Erbe
seiner Frau aufbraucht, scheitert. Er ist
genauso ein Versager wie sein Vater.
Ab dem Jahr 1770 wechselt die Erzählperspektive von Pestalozzi
zu dessen Kind Jacob. P. will für ihn "nur
das Beste", bringt Jacob aber lediglich ein Trauma
nach dem anderen bei, an deren Auswirkungen dieser schließlich
schon mit 31 Jahren sterben wird. Und damit endet die Geschichte.
Dieser Roman könnte von der schweizerischen Psychoanalytikerin
Alice Miller (AM ANFANG WAR ERZIEHUNG) inspiriert worden sein.
Ohne die historischen, geographischen und andere Umstände herunterspielen
zu wollen (der Autor wurde offenbar sehr fachkundig von
der Geschichtswerkstatt Dortmund beraten), treibt anscheinend eine
jede Elterngeneration das Rad fremdbestimmter Lebensführung voran.
Jedermensch will glücklich und zufrieden sein, steht aber
unter einer Art posthypnotischem Zwang, zuvörderst
elterlich-erzieherische Maßgaben zu erfüllen.
Erst spät, bei Pestalozzi in dessen zweiten Lebenshälfte,
können davon abweichende Ideen entwickelt und dann wenigstens
von anderen umgesetzt werden. Das eigene Kind hat allerdings nichts
mehr davon. P. war zu selbstlos, konnte zuwenig bei sich sein,
um seinem Kind gegenüber spontan das "Beste" empfinden
und entgegenbringen zu können. Aber Häme
und Ironie über den "Klassiker der Pädagogik"
auszuschütten, würde nur ablenken, denn wer hier Schuld- oder
Schwarze-Peter-Karten verteilen möchte, sollte erstmal
versuchen, an dem Brett vor seiner eigenen Stirn zu sägen.
Dieses Buch kann und will dem Werk Johann Heinrich Pestalozzis
nicht gerecht werden, sondern einmal mehr nachvollziehbar machen,
wie sehr doch Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen - nicht
weil der Anspruch zu hoch wäre, sondern die Wirklichkeit
überwiegend brutaler Lebensfeindlichkeit ausgesetzt ist,
gegen die anzukämpfen, keinem und keiner leicht gemacht werden.
Alle, die an und noch lieber über Menschen arbeiten,
könnte dieser Roman auf den Boden der Tatsachen, d. h.
auf sich selbst zurückwerfen helfen. Daß dies eine
bemerkenswerte Qualität darstellt, weiß jede
und jeder, die erkannt haben, daß ein selbst-bewußtes
Erinnern an das eigene Woher und Warum vor jeder grauen
Theorie zum Verständnis und Helfenwollen anderer stehen sollte.