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Der Grabstein hat in etwa die Form eines Herzens. Die eingravierten Namen zählen nahezu eine ganze Familie auf: Vater, Mutter und drei Kinder. Nur zwei haben überlebt. Damals war Ellen zwölf und Carlos fünf Jahre alt. Doch Ellen mußte sich auch bald noch von Carlos verabschieden. Ihn nahm eine Pflegefamilie auf, während sie bis zu ihrem 18. Lebensjahr im Waisenhaus bleiben mußte. Jetzt ist Ellen fast vierzig und erwartet ihr erstes Kind. Anhand eines übriggebliebenen Fotoalbums tastet sie sich zurück in die Vergangenheit: An die Tage vor der Geburt ihrer jüngsten Schwester Ida, mit der die Tragödie begann, und an die Tage danach...
Kaum ein Autor vermag wie die Niederländerin Renate Dorrestein in einer so wunderbar austarierten Sprache dem Grauen des Alltags Stimme zu verleihen. Waren es in ihrem letzten Roman (WAS KEINER SIEHT) noch die scheinbar paradoxen Gemeinsamkeiten zwischen ganz jung und sehr alt, vertieft sie diesmal die Erkenntnis: 'Verrückt: Niemand hat jemals die Möglichkeit erwähnt, daß es auch eine ganze Menge Gutes gab, auf das ich zurückblicken könnte.'
Die Tonlage der Ich-Erzählerin Ellen ist von nahezu homerischer Lakonie, und die Spannung wird bis zuletzt gehalten, denn Ellen läßt sich immer nur bruchstückhaft auf ihre Vergangenheit ein. Dorrestein setzt hierfür eine mitreißend faszinierende Überblendungstechnik ein, mit der sie wohldosiert Erinnerungen und Gegenwart ihrer Heldin miteinander zu verbinden weiß. Sie und die Leser haben dadurch erst am Ende des Buches das ganze Schreckenspanorama vor Augen - und zugleich eine hoffnungsvolle Option auf 'ein Leben danach'.
Weitere Besprechungen zu Werken von Renate Dorrestein siehe:
Renate Dorrestein: Was keiner sieht (1997)
Renate Dorrestein: Ein Herz von Stein (1999)
Renate Dorrestein: Das Erdbeerfeld (2003)