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Erst seit 15 Jahren wird sexueller Kindesmißbrauch von der allgemeinen
Öffentlichkeit wahrgenommen und thematisiert. Er bildet seitdem den
Plot für Filmdramen oder Thriller, die Justiz- und Regierungsbehörden
im Nachbarland Belgien wurden anhand eines besonders üblen Falles
als bestenfalls inkompetent vorgeführt, und in unserem Land wird der
Ruf nach der Todesstrafe für Sexualmörder wieder laut...
Letzteres deutet bereits daraufhin, daß zwar das Tabu um dieses
Thema angekratzt, die inhaltliche Auseinandersetzung damit aber immer noch
von diffus aufgeladener Oberflächlichkeit gekennzeichnet ist.
Der Psychologe und Vorsitzende vom saarländischen Landesverband
des Kinderschutzbundes Günther Deegener arbeitet und veröffentlicht
bereits seit langem zum Thema "Gewalt und Familie". Sein neuestes
Buch "Kindesmißbrauch - erkennen, helfen, vorbeugen" verfolgt ohne
auszuufern den im Titel angedeuteten Dreischritt. Es empfiehlt sich dank
seiner übersichtlichen Strukturierung und guten sprachlichen Verfassung
einer breiten Leserschaft. Insbesondere ErzieherInnen und LehrerInnen finden
hier ein Kompendium, das in aller Kürze und Prägnanz das Halbwissen
um Wesentliches zu ergänzen vermag. (Wie aus einigen "aktuellen"
Zitaten zu ersehen ist, wäre seine Lektüre aber auch noch so
manchen Wissenschaftlern anzuraten.)
Zehn der 24 Kapitel beziehen sich auf das "Erkennen" von sexuellem
Mißbrauch. Hier werden Definitionen und Formen erläutert, inhaltlich
haarsträubende Zitate von Opfern im Kindes- und Jugendalter aufgeführt,
Pseudodiskussionen über angeblich "harmlosen" Erwachsenen-Kind-Sex
entlarvt, die verschiedenen, stets erschreckenden Statistiken zur Häufigkeit
dargelegt und die Geschichte sexuellen Mißbrauchs unter anderem auch
an der Stellung der Frau in der Gesellschaft skizziert.
Im Mittelpunkt steht das kindliche Opfer. So wird hier auch erklärt
und um Verständnis geworben, warum viele von ihnen so lange schweigen.
Ihre Ängste gehen weit über die eigene Bedrohung hinaus und sind
insbesondere bei Mißbrauch durch Familienangehörige von hoher
Komplexität. Um helfen zu können, ist Deegener aber auch die
Vorstellung der unterschiedlichen Tätergruppen unverzichtbar, weil
deren Täterschaft oft ihren Anfang im eigenen, vorangegangenen Opfersein
nimmt.
Das 10. Kapitel weist ausführlich auf erste Anzeichen sowie mittel-
und langfristige Folgen von sexuellen Mißbrauch hin. Dabei wird zugleich
vor dem anderen Extrem gewarnt, allzuschnell einen Mißbrauch zu konstatieren
und ungerechtfertigte Vorverurteilungen zu treffen. Sehr hilfreich sind
im darauffolgenden Kapitel die Hinweise zur Gesprächsführung
mit mißbrauchten Kindern. Diese Seiten sollten allen Mitarbeitern
von Schulen und pädagogischen Einrichtungen zugänglich gemacht
und auf entsprechenden Konferenzen diskutiert werden.
Es folgen ebenso verbreitungswürdige Abschnitte über die
detailgenau geplanten Strategien von Mißbrauchern und was ihnen präventiv
entgegenzusetzen ist, sowie jene über die oft vorschnell mitverurteilten
Ehefrauen von mißbrauchenden Vätern und über die sich verbreitende
Angst "normaler" Väter, mit ihren Kindern zu baden.
Ferner führt Deegener aus: Wenn sexuelle Mißbraucher lügen,
ist dies zum Teil "sicherlich so, wie es auch am Beispiel eines Politikers
veranschaulicht werden kann, über den in den Medien erste Verdachtsmomente
auf einen von ihm verursachten Skandal veröffentlicht werden".
Diesem nicht von Wiedererkennungseffekten freien Kapitel stellt er dann
jenes gegenüber, worin er einen bestechenden Fragekatalog zur kritischen
Selbstbetrachtung aufstellt.
So resignativ einen dann die von Staat und Gesellschaft noch längst
nicht eingelösten Forderungen nach sinnvoller Prävention stimmen,
entläßt der Autor die Leserschaft nicht, ohne sie eingehend
auf eigene konkrete Maßnahmen und auf das Für und Wider vom
Erstatten einer Anzeige hinzuweisen.
Am Ende sind entsprechende Gesetzestexte sowie umfangreiche Listen
von Anlauf- und Beratungsstellen, weiterführende Literaturempfehlungen
und Präventionsmaterialen nachzulesen.